Türkei:Urteil gegen oppositionelle Starpolitikerin

Türkei: Canan Kaftancioğlu, CHP-Chefin in Istanbul, grüßt nach dem Urteil des Obersten Berufungsgerichts ihre Anhänger.

Canan Kaftancioğlu, CHP-Chefin in Istanbul, grüßt nach dem Urteil des Obersten Berufungsgerichts ihre Anhänger.

(Foto: Murad Sezer/Reuters)

Die Sozialdemokratin Canan Kaftancioğlu wurde zu fünf Jahren Haft verurteilt und darf solange nicht mehr politisch arbeiten. Das Urteil ist ein Schlag gegen Erdoğans Widersacher.

Von Tomas Avenarius, Istanbul

Ein Gerichtsurteil droht die wichtigste türkische Oppositionspartei zu schwächen. Das Oberste Berufungsgericht bestätigte jetzt eine Reihe früherer Urteile gegen Canan Kaftancioğlu, die Chefin der Istanbuler Sektion der CHP. Die sozialdemokratisch ausgerichtete CHP ist die bedeutendste Oppositionsgruppierung der Türkei, Kaftancioğlu selbst einer der Shooting-Stars der Partei. Nun wird sie mit einem Politikverbot belegt, außerdem drohen ihr wegen "Beleidigung des Staatsoberhauptes" und wegen "Beleidigung der Republik" fast fünf Jahre Haft.

Dies dürfte die CHP hart treffen. Kaftancioğlu gilt als glänzende Strategin. Sie hatte 2019 den Wahlkampf organisiert, in dem die CHP Istanbul erobert und die AKP, die Partei von Staatschef Recep Tayyip Erdoğan, verdrängt hatte. Damals kam der CHP-Politiker Ekrem Imamoğlu ins Amt des Oberbürgermeisters. Spekuliert wird in den türkischen Medien, dass nun auch Imamoğlu selbst unter einem juristischen Vorwand von den Gerichten angegangen und aus der Politik ausgeschaltet werden könnte. Der Posten des Istanbuler Bürgermeisters gilt als Sprungbrett ins Präsidentenamt, und Imamoğlu ist populär, er gilt als möglicher Kandidat gegen Erdoğan bei den für das kommende Jahr anstehenden Präsidentschaftswahlen. Auch gegen Imamoğlu laufen Beleidigungsverfahren gegen Staatsvertreter.

Zweifel an der politischen Unabhängigkeit der Justiz stellen inzwischen eine Notwendigkeit jeder seriösen Bewertung der aktuellen türkischen Politik dar. Das Urteil des Kassationsgerichtes kommt zudem zu einem Zeitpunkt, in der die Wiederwahl von Erdoğan und seiner AKP bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2023 infrage steht. Die miserable Wirtschaftslage mit einer Inflation von mehr als 70 Prozent und einem Verfall der Landeswährung Lira kosten den Staatschef zunehmend den Rückhalt.

In jüngsten Umfragen schrumpft der Abstand zwischen seiner AKP mit 30,5 Prozent zur CHP mit 29,5 Prozent weiter. Das Oppositionsbündnis der CHP mit mehreren anderen Parteien überflügelt die Allianz aus AKP und der rechtsnationalistischen MHP bereits in einigen Umfragen. Allerdings wirkt das Oppositionsbündnis nicht geschlossen. Es hat sich bisher nicht auf einen gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten einigen können und schafft es auch nicht, die sowohl bei der kurdischen Wählerschaft als auch bei linksliberalen Städtern populäre Kurden-Partei HDP in ihr Bündnis zu integrieren.

Der CHP-Chef teilt gegen Erdoğan hart aus

Das Urteil gegen Kaftancioğlu lässt Fragen offen. So ist nicht klar, ob Kaftancioğlu die Haft von fast fünf Jahren absitzen muss. In den Medien wurden Stimmen zitiert, die auf ein neues Gesetz der Erdoğan-Regierung verwiesen, wonach kürzere Haftstrafen in bestimmten Fällen nicht mehr angetreten werden müssen. Selbst wenn dies für Kaftancioğlu zuträfe, unterläge sie aber einem Politikverbot. Sie dürfte sich nun fünf Jahre lang nicht mehr politisch betätigen, sagte ihr Anwalt der Deutschen Presse-Agentur.

Kaftancioğlu war 2019 wegen mehrerer Anklagepunkte, darunter Präsidentenbeleidigung und öffentliche Herabwürdigung des türkischen Staates, zu fast zehn Jahren Haft verurteilt worden. Das Oberste Gericht bestätigte dieses Urteil nun in nur drei Anklagepunkten mit einer Freiheitsstrafe von 4 Jahren, 11 Monaten und 20 Tagen. Urteile wegen Terrorpropaganda und Volksverhetzung hoben die Richter auf. Grundlage der Anklagen waren allein Twitter-Nachrichten aus den Jahren 2012 bis 2017.

Kaftancioğlu twitterte nach Bekanntgabe des Urteils: "Wir werden weiterarbeiten, bis wir die Rechtsstaatlichkeit wiederherstellen, nicht nur für mich, sondern für 84 Millionen Bürger." Kritik kam aus allen Oppositionsparteien. Oppositionsführer und CHP-Chef Kemal Kiliçdaroğlu rief alle Abgeordneten seiner Partei dazu auf, sich aus Protest zur Istanbuler Parteizentrale zu begeben. Erdoğan sei "ein Heuchler, ein Opportunist, ein Tyrann und ein Manipulator". Der Präsident solle nicht vergessen, dass das Volk hinter Kaftancioğlu stehe.

Istanbuls Bürgermeister Imamoğlu bezeichnete Kaftancioğlu als seine "Weggefährtin" und verurteilte die Entscheidung als politisch motiviert. Ömer Çelik von der Regierungspartei AKP wies die Kritik an dem angeblich politisierten Urteil hingegen zurück. "Diese Diskussion ist eine, die von Juristen geführt werden sollte."

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