Türkei:Nicht tot, aber im Überlebenskampf

Türkische Menschenrechtler und internationale NGOs schlagen Alarm - die Regierung in Ankara mache ihnen ihre Arbeit mit gezielter "juristischer Schikane" zunehmend unmöglich.

Von Christiane Schlötzer, Istanbul

Nach der Anklage gegen den prominenten Istanbuler Kulturmäzen Osman Kavala fürchten Menschenrechtsorganisationen in der Türkei, dass ihnen die Arbeit ganz unmöglich gemacht werden soll. Zehn NGOs, darunter Amnesty International, Reporter ohne Grenzen und der türkische Menschenrechtsverein, warfen der Regierung in Ankara am Mittwoch eine "Kampagne der Einschüchterung und juristische Schikane" vor. "Man versucht die unabhängigen NGOs zu vernichten", sagte Andrew Gardner vom Istanbuler Amnesty-Büro. Zu den Vorwürfen gegen Kavala und 15 Mitangeklagte - Schauspieler, eine Architektin, Journalisten, Wissenschaftler - sagte Erol Önderoğlu, der Vertreter von Reporter ohne Grenzen in der Türkei: "Die Regierung weiß viel besser als wir, dass diese Leute unschuldig sind."

Die Anklage wirft den 16 Türken vor, die Gezi-Proteste vor sechs Jahren organisiert zu haben, und wertet dies als Umsturzversuch. Die Proteste richteten sich zunächst gegen die Vernichtung eines kleinen Istanbuler Parks, dann zunehmend gegen den damaligen Premier und heutigen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Kavalas Anwälte hätten die Anklage bislang nicht zu Gesicht bekommen, heißt es in einer Erklärung der NGOs. Die regierungsnahe Presse verbreitete vergangene Woche aber bereits Details: die Anklage sei 657 Seiten stark und fordere für den Mäzen "erschwerte lebenslange Haft". Gardner fürchtet einen "Schauprozess".

Über den Fall Kavala twittert die Türkei-Berichterstatterin der EU, Kati Piri: "totaler Wahnsinn"

Kavala, 62, sitzt schon seit fast 500 Tagen in Untersuchungshaft. Er war 2017 auf dem Istanbuler Airport noch im Flugzeug festgenommen worden. In der Maschine saßen auch Mitarbeiter des deutschen Goethe-Instituts, mit denen er in Gaziantep gemeinsame Aktivitäten besprochen hatte. Kavala unterstützte Kulturinitiativen in der ganzen Türkei, seine Stiftung "Anadolu Kültür" arbeitete mit vielen internationalen Organisationen zusammen. Das US-Außenministerium reagierte auf die Anklage mit "großer Besorgnis". Die Türkei-Berichterstatterin des EU-Parlaments, Kati Piri, twitterte, Kavala zu unterstellen, er habe versucht, die Republik zu zerstören, sei "totaler Wahnsinn". Kavala ist auch für den Friedensnobelpreis nominiert.

Dass die Zivilgesellschaft in der Türkei "tot" sei, davon wollten die Aktivisten nichts wissen, aber sie kämpfe derzeit ums Überleben. Ihren gemeinsamen Auftritt werteten sie als "gegenseitige Ermutigung" in Zeiten, in denen die Zivilgesellschaft "kriminalisiert" werde.

Die Türkei hat jüngst der EU eine neue Initiative zur Reform ihres Rechtssystems versprochen. Der Justizminister lud dazu am 14. Februar auch einige Menschenrechtsverteidiger nach Ankara ein, "zum ersten Mal seit Langem", sagte die Juristin Emel Ataktürk Sevimli. Echten Reformwillen aber sehen die Aktivisten bislang nicht. "Das ist für die Vitrine", sagte der Journalist Önderoğlu. 500 000 Menschen in der Türkei werde die Mitgliedschaft in einer Terrororganisation vorgeworfen. "Selbst wenn man die Familien dazurechnet, ist das eine unmöglich hohe Zahl." Es gehe darum, Angst zu verbreiten.

Schon ein Social-Media-Post könne ins Gefängnis führen. Mit den vielen Prozessen werde Menschen "Lebenszeit gestohlen", sagte Önderoğlu, der selbst auch angeklagt ist, wegen einer Solidaritätsaktion für eine kurdische Zeitung. Er musste von der Pressekonferenz direkt wieder in den Gerichtssaal.

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