Türkei:Neuwahlen nach Erdoğans Geschmack

Türkei: Präsident Recep Tayyip Erdoğan gab am Mittwoch bekannt, dass die Türken im Sommer vorzeitig Parlament und Präsident neu wählen sollen.

Präsident Recep Tayyip Erdoğan gab am Mittwoch bekannt, dass die Türken im Sommer vorzeitig Parlament und Präsident neu wählen sollen.

(Foto: AP)
  • Der türkische Präsident Erdoğan hat angekündigt, am 24. Juni vorgezogene Neuwahlen abhalten zu wollen.
  • Die gleichzeitig stattfindenden Parlaments- und Präsidenschaftswahlen sollen auch den Übergang zum Präsidialsystem beenden, das Amt des Ministerpräsidenten wird abgeschafft.
  • Erdoğan hofft wohl vor allem, seine Gegner zu überrumpeln und eine patriotische Grundstimmung im Land für sich zu nutzen.

Von Luisa Seeling

Am Mittwoch ging es auf einmal ganz schnell. Seit Monaten war in der Türkei über vorgezogene Neuwahlen spekuliert worden, Kolumnisten und Analysten hatten die Fürs und Widers durchgespielt, es hatte etwas von einer Schachpartie: Wer kann die meisten Züge vorausberechnen? Am Nachmittag trat dann Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan in Ankara vor die Presse: Am 24. Juni, in knapp neun Wochen, sollen gleichzeitig Präsidentschafts- und Parlamentswahlen stattfinden - fast anderthalb Jahre vor dem regulären Termin im November 2019.

Angesichts bevorstehender Herausforderungen, sagte Erdoğan, werde der Wechsel zum Präsidialsystem immer dringlicher. Nach wenigen Minuten war die Pressekonferenz vorbei, Fragen waren nicht zugelassen. Und das, obwohl einige offen geblieben waren: Hatte Erdoğan nicht stets beteuert, keine vorgezogenen Neuwahlen anzustreben? Warum muss es nun so irre schnell gehen?

Auch 2018 müssen die Türken wieder wählen

Erdoğans Erklärung war am Dienstag ein Vorstoß Devlet Bahçelis vorausgegangen, des Vorsitzenden der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP). Bahçeli ist ein Verbündeter des Präsidenten, schon jetzt stimmt seine Fraktion im Parlament häufig für Vorhaben der regierenden AKP. Für die kommenden Wahlen haben beide Parteien auch formal eine Allianz gebildet.

Bahçeli hatte sich eigentlich den 26. August als möglichen Wahltermin ausgeguckt, den Tag, an dem im Jahr 1071 die türkischen Selçuken in der Schlacht von Manzikert den byzantinischen Kaiser schlugen. Nicht einmal bis August aber wollte sich Erdoğan offenbar gedulden. Er lud Bahçeli zum Gespräch in seinen Palast ein, und am Ende der Unterredung stand fest: Auch 2018 müssen die Türken wieder wählen - vorausgesetzt, die Wahlbehörde stimmt zu, woran kaum jemand zweifelt.

Auch dieses Jahr wird es also keine Verschnaufpause für die Wähler geben. 2014 fanden in der Türkei Kommunal- und Präsidentschaftswahlen statt. 2015 wählten die Türken ein neues Parlament, und als keine Regierungskoalition zustande kam, mussten sie noch mal ran. 2016 war das Jahr des gescheiterten Putsches mit seinen dramatischen Folgen, Festnahmen und Entlassungen, die bis heute andauern: Am Mittwoch kündigte der Verteidigungsminister Nurettin Canikli an, 3000 Armeeangehörige mit mutmaßlichen Verbindungen zur verbotenen Gülen-Bewegung zu entlassen. Dies ist unter dem seit 2016 geltenden Ausnahmezustand per Dekret möglich - den das Parlament am Mittwoch um weitere drei Monate und somit über das Datum der Wahl hinaus verlängerte. Im April 2017 hatten die Türken mit knapper und umstrittener Mehrheit für die schrittweise Einführung eines Präsidialsystems gestimmt. Die vorgezogene Doppelwahl soll den Systemwechsel abschließen; das Amt des Premierministers wird abgeschafft, das Präsidentenamt massiv aufgewertet.

Für Erdoğan geht es um viel. Wichtigster Grund für vorgezogene Neuwahlen dürfte die türkische Wirtschaft sein. Die wuchs 2017 zwar um 7,4 Prozent, doch die Lira fällt seit Monaten, allein im März verlor sie acht Prozent ihres Wertes gegenüber Dollar und Euro. Sollte sich die Lage verdüstern, könnten sich Erdoğans Siegeschancen verschlechtern. Schon jetzt kommt das Wahlbündnis von AKP und MHP nur auf eine knappe Mehrheit. Wenn der "Afrin-Effekt" verpufft, jene patriotische Stimmung, die Teile des Landes seit dem Einmarsch in Nordsyrien erfasst hat, könnte der Vorsprung weiter schrumpfen.

Ein weiteres Motiv: Überrumpelung. Zwar verkündeten die Oppositionsparteien schon am Dienstag mehr oder weniger unisono, ein früherer Wahltermin mache ihnen gar nichts aus. Kemal Kılıçdaroğlu, Chef der kemalistisch-säkularen CHP, begrüßte die Vorverlegung, und die prokurdische HDP ließ wissen, man nehme "die Herausforderung" an. Entspannt gab sich auch Meral Akşener, Vorsitzende der kürzlich gegründeten konservativen Iyi-Partei: "Vorgezogene Wahlen oder Wahlen nach Plan, dies oder das; es gibt nichts, weswegen wir uns Sorgen machen sollten."

Erdoğan startet von der Pole-Position

Nur ändert all die demonstrative Gelassenheit nichts daran, dass zwei Monate extrem wenig Zeit sind, um Wahlkampf zu machen. Die Regierungspartei hat ihr Bündnis schon geschmiedet - die "Volksallianz" mit der MHP; bei den Herausforderern ist bislang nicht klar, ob überhaupt Allianzen zustande kommen. Auch Präsidentschaftskandidaten stehen noch nicht fest, von Meral Akşener abgesehen, die gesagt hat, antreten zu wollen.

Sollte Erdoğan im ersten Wahlgang keine absolute Mehrheit erringen, könnten sich im zweiten Durchlauf viele Wähler hinter ihr versammeln; auf die Stimmen der meisten Kurden kann sie als ehemalige Hardlinerin im Kurdenkonflikt aber nicht zählen, weshalb es womöglich nicht reicht, um Erdoğan zu schlagen. Im Fall der CHP dürfte es wegen der Eile auf Kılıçdaroğlu hinauslaufen; der aber schnitt in vergangenen Abstimmungen eher mau ab. Und die Kurden? Ein Teil ihrer Führung sitzt im Gefängnis, darunter der charismatische Ex-Parteichef Selahattin Demirtaş. Während Erdoğan im Rennen um die Macht von der Pole-Position startet, müssen seine Gegner sich erst noch sortieren.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: