Süddeutsche Zeitung

Türkei:Nachspiel einer Protestnacht

Als am Weltfrauentag Tausende auf die Straße gehen, reagiert die Polizei mit Härte. Nun verkündet Präsident Erdoğan: Die Demonstrantinnen hätten den Muezzinruf und damit die Nation missachtet.

Von Christiane Schlötzer, Istanbul

Fünf Mal erschallt der Gebetsruf jeden Tag von allen Istanbuler Moscheen. Wenn der Muezzin zum letzten Mal zur Andacht ruft, ist die Sonne längst untergegangen. Viele Türken sagen, der Ezan sei lauter geworden, seit die Partei von Recep Tayyip Erdoğan regiert, also seit fast 17 Jahren. Dennoch, im Straßenlärm geht das gesungene "Gott ist groß" gewöhnlich unter. Auch die Nostalgie-Tram auf der Einkaufsmeile Istiklal fährt weiter, die Kellner servieren Kaffee und die Bankautomaten spucken Geld aus, wenn die Aufforderung erfolgt: "Eilt zum Gebet".

Als am vergangenen Freitag, dem 8. März, dem Internationalen Tag der Frauen, der Ezan ertönte, achteten weder die Polizisten darauf, die mit Gummigeschossgewehren auf die Füße von Frauen zielten, noch die Demonstrantinnen, die pfiffen und schrien, vor Wut und aus Angst. Jedes Jahr organisieren Feministinnen diesen Nachtmarsch auf der Istiklal, gewöhnlich unbehelligt. Tausende Frauen und auch Männer nahmen auch diesmal teil. Nur hatte die Polizei schon vor Beginn überall Absperrgitter errichtet. Die Menschen wurden in schmale Gassen gedrängt, es gab Rangeleien, die Polizei sprühte Reizgas. Irgendwann verlief sich der Protest.

Selbst einige konservative Stimmen warnen davor, auf dem Rücken der Frauen zu polarisieren

Nun aber hat die Nacht ein Nachspiel. Auf einer Kundgebung in Adana zeigte der Präsident am Sonntag ein kurzes Video: der Frauenprotest aus der Vogelperspektive, zu hören der Ezan, dann Zoom auf eine bekannte Oppositionspolitikerin. "Sie zeigen mit ihren Pfiffen und Slogans, dass sie den Gebetsruf missachten", sagte Erdoğan. "Ihre Allianz ist eine Allianz der Feindschaft gegen den Ezan." Mit "Allianz" war das Bündnis der Opposition gemeint, das bei der Kommunalwahl am 31. März gegen die regierende AKP antritt. Und Erdoğan setzte noch eins drauf: "Wer den Gebetsruf nicht respektiert, respektiert auch unsere Fahne nicht." Alle Regierungszeitungen erschienen danach mit Schlagzeilen gegen die "Feinde von Religion und Nation".

Nicht nur die parteiunabhängigen Frauenrechtsgruppen, die zu dem Marsch aufriefen, wehren sich jetzt gegen solche Vorwürfe. Es gibt auch einige konservative Stimmen, die davor warnen, die Gesellschaft - auf dem Rücken der Frauen - weiter zu polarisieren. In der regierungsnahen Yeni Şafak schrieb eine Kolumnistin: "Einen Protest fortzusetzen ist nicht dasselbe wie gegen den Gebetsruf zu protestieren. Wir müssen es schaffen, in diesem Land mit Distanz und Respekt zusammenzuleben." Der AKP-Abgeordnete Mustafa Yeneroğlu bat per Twitter um "mehr Ruhe und gesunden Menschenverstand". Er wandte sich gegen Scharfmacher, die nun Frauen im Internet bedrohen. Der Gebetsruf müsse nicht durch Androhung "roher Gewalt" geschützt werden, so Yeneroğlu.

Es waren türkische Frauen, die Erdoğan an die Macht brachten. Ihnen versprach er die Befreiung - im Namen der Religion. Er schaffte Kopftuchverbote ab, die der kemalistische Staat jahrzehntelang für Universitäten, Behörden, Krankenhäuser vorschrieb. So sicherte sich eine säkulare Elite lange die besseren Aufstiegschancen in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens. Erdoğans Töchter studierten in den USA. Das konnten sich nur wenige leisten.

Von Haustür zu Haustür schickte die AKP bereits in ihrem ersten Wahlkampf die Frauen, denn wer kann einer Frau den Eintritt verwehren? Diese Wahlwerbung war neu, sie brachte den Konservativen viel Zulauf. Wenn Erdoğan Abtreibung "Mord" nennt oder in einer Versammlung konservativer Frauenvereine sagt, er glaube "nicht an die Gleichberechtigung", dann weiß er sich heute noch einig mit seiner Klientel. Wenn sich der Präsident aber wünscht, türkische Familien sollten drei oder besser fünf Kinder bekommen, weil ein Bevölkerungsboom die Bedeutung der Türkei erhöhe, dann folgen ihm auch Konservative nicht mehr unbedingt. Die Geburtenrate sinkt, vor allem in den Metropolen, und die meisten Türken leben heute in Städten. Während der Istanbuler Gezi-Proteste vor sechs Jahren - die bald ein Nachspiel vor Gericht haben werden - hatten viele Frauen auch dagegen protestiert, dass ihnen der Präsident vorschreiben will, wie sie leben sollen.

Bisweilen sieht Erdoğan sich gezwungen, die konservativen Geister wieder einzufangen. Als ein Kleriker im vergangenen Jahr erklärte, Frauen sollten "Gott dankbar" sein, weil er Männern erlaubt habe, sie zu schlagen, da verurteilte der Präsident den Hass verbreitenden Hodscha öffentlich: "Solche Prediger haben keinen Platz in unserer Religion." Das war am 8. März 2018, am Frauentag.

Ein anderes Mal sagte Erdoğan, einige Medien "übertrieben", wenn sie von zunehmender Gewalt an Frauen berichteten. 2018 wurden in der Türkei 477 Frauen von ihren Männern, Verwandten oder Bekannten getötet, über 200 durch Schusswaffen, viele erwürgt oder zu Tode geprügelt. Dagegen hätten die Frauen auf der Istiklal gerne protestiert - wenn sie gedurft hätten.

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SZ vom 13.03.2019
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