Türkei nach Anschlag in Reyhanli:Im Sog der Gewalt

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Rettungskräfte arbeiten in Reyhanli: Der Anschlag könnte einen Wendepunkt für die Türkei bedeuten. (Foto: REUTERS)

Das Attentat in Reyhanli als Wendepunkt: Die Türkei vermutet syrische Auftraggeber hinter dem Anschlag - und könnte nun selbst in den Konflikt im Nachbarland hineingezogen werden. Premier Erdogan erhöht den Druck auf Obama, in Syrien zu intervenieren.

Von Christiane Schlötzer, Istanbul

Jeder syrische Flüchtling in der Türkei kennt den Namen Reyhanli. Die kleine Grenzstadt ist einer der wichtigsten Zufluchtsorte für Menschen, die vor dem syrischen Bürgerkrieg fliehen. Jetzt ist der Krieg nach Reyhanli gekommen, direkt vor das Postamt und das Rathaus der Provinzstadt, mit zwei Autobomben zur Mittagszeit, mindestens 46 Toten sowie etwa 140 zum Teil schwer Verletzten. "Meine drei Kinder hatten solche Angst, alles hat sie an die Bomben in Aleppo erinnert. Gott helfe uns", zitierte die türkische Zeitung Zaman eine syrische Augenzeugin, die nur ihren Vornamen, Kolsum, nannte. "Reyhanli wurde nicht zufällig ausgewählt", sagte der türkische Vizepremier Bülent Arinc.

Handyaufnahmen direkt nach den Explosionen zeigen rauchende Gebäude, ausgebrannte Autowracks und Menschen, die verzweifelt versuchen, Verletzte zu bergen. Unter den Toten und Verwundeten sind offenbar Syrer und Türken, Flüchtlinge und Einheimische. Die Täter könnten Türken gewesen sein, hieß es bereits in ersten Reaktionen aus Ankara, am Sonntag wurden dann neun verdächtige türkische Staatsbürger festgenommen. Die Auftraggeber aber sollen in Damaskus sitzen: in einem von Präsident Baschar al-Assads Geheimdiensten. "Die Leute und die Organisation dahinter sind identifiziert", sagte Innenminister Muammer Güler. "Es ist erwiesen, dass sie Verbindungen zu Organisationen haben, die vom syrischen Regime und seinen Geheimdiensten unterstützt werden."

Das Informationsministerium in Damaskus wies dies umgehend zurück.

Reyhanli ist auch ein Zentrum der syrischen Opposition, die von der türkischen Regierung fast seit Beginn der blutigen Auseinandersetzungen vor zwei Jahren unterstützt wird. 300.000 Flüchtlinge hat die Türkei mittlerweile aufgenommen, die meisten leben in Lagern entlang der mehr als 800 Kilometer langen gemeinsamen Grenze. Dort haben auch die Kämpfer gegen Assad einen Rückzugsraum. Verletzte Rebellen werden in Hospitälern behandelt.

Türkische Jugendliche demonstrieren gegen syrische Flüchtlinge

Nicht allen Türken gefällt dieses eindeutige Engagement. Kritiker der Politik von Premier Tayyip Erdogan warnen seit langem, die Türkei werde immer tiefer in den Konflikt in ihrem Nachbarland hineingezogen. Türkische Nationalisten stellen sich zum Teil klar auf die Seite des Diktators. "Erdogans Worte des Hasses gegen Assad und die Provokationen gegen die Regierung in Damaskus kommen zu uns mit Anschlägen und Provokationen zurück", sagte der Chef der oppositionellen Nationalisten-Partei MHP, Devlet Bahceli. Der Schriftsteller Zülfü Livaneli, der eher zur politischen Linken gehört, meinte, die Türkei sei wegen der neu-osmanischen Sehnsüchte ihrer Regierung nach dem Nahen Osten, von dem sie eigentlich keine Ahnung habe, "in ein blutiges Spiel hineingeraten".

Nach dem Inferno von Reyhanli am Samstag trafen sich dort türkische Jugendliche zu einer spontanen Demo - gegen syrische Flüchtlinge. Die jungen Türken griffen Autos mit syrischen Nummernschildern an. Staatspräsident Abdullah Gül meldete sich zu Wort und mahnte zur Ruhe. Syrische Revolutionsaktivisten riefen die Flüchtlinge über den Kurznachrichtendienst Twitter auf, ihre Unterkünfte in Reyhanli erst einmal nicht zu verlassen. Khawla Sawah, die medizinische Direktorin einer syrischen Hilfsorganisation, die außerhalb von Reyhanli eine Behelfsklinik aufgebaut hat, berichtete, auch die Autoritäten der Stadt hätten die Syrer gebeten, "nicht mit ihren Autos herumzufahren". Sawah sagte, sogar syrische Ärzte, die im Krankenhaus der 60.000-Einwohner-Stadt arbeiten, seien von Türken aufgefordert worden, nach Hause zu gehen.

Angeblich trugen die zwei Bomben-Autos in Reyhanli syrische Nummernschilder. Das haben Verletzte der Ärztin Sawah erzählt. Im Februar war bereits ein Kleinbus an einem offiziellen Grenzübergang bei Reyhanli in die Luft geflogen, dabei starben 14 Menschen. So viele Tote wie jetzt aber hat es lange Zeit bei keinem Terroranschlag in der Türkei mehr gegeben. Im November 2003 hatten Islamisten mit vier Autobomben in Istanbul 57 Menschen getötet und mehr als 600 verletzt.

Die Attacke trifft das Land in einem Moment, da viele Menschen auf Frieden hoffen: nach 30 Jahren blutigen Ringens mit der kurdischen PKK, einem Konflikt, der 40.000 Tote und unendliches Leid mit sich gebracht hat. Die Regierung in Ankara und der inhaftierte PKK-Chef Abdullah Öcalan vereinbarten jüngst einen Abzug der kurdischen Kämpfer aus der Türkei. Die ersten militanten Kurden haben in der vergangenen Woche die Grenze zum Nordirak überschritten, wo sich seit Langem das Hauptquartier der PKK befindet. Bis zum Herbst soll der Abzug abgeschlossen sein. In einer ersten Reaktion nach den Explosionen von Reyhanli meinte Regierungschef Erdogan, die Täter hätten womöglich auch den kurdischen Friedensprozess treffen wollen. Der syrische Ableger der PKK stand zumindest lange Zeit Assad näher als den Rebellen.

Erdogan will Obama in Washington treffen

Die Türkei hat sich nach dem Anschlag von Reyhanli militärische Vergeltung vorbehalten. Schon früher, als syrische Granaten auf Grenzorte fielen, schoss die türkische Artillerie zurück. Bislang aber machten sowohl die Regierung in Ankara als auch die türkische Armee nicht den Eindruck, direkt in den Krieg im Nachbarland eingreifen zu wollen. Erdogan kritisiert aber immer wieder die "Tatenlosigkeit" des Westens.

Erst jüngst hat der Regierungschef seine Forderung nach der Schaffung einer Flugverbotszone über syrischem Gebiet entlang der Grenze wiederholt. Deren Einrichtung könnte nur unter Führung der USA erfolgen. Am kommenden Donnerstag wird Erdogan bei einem lange geplanten Besuch in Washington mit Präsident Barack Obama zusammentreffen. Der Premier will Obama dann von türkischen Erkenntnissen über einen angeblichen Einsatz von Chemiewaffen durch das Assad-Regime berichten.

Die Zeitung Hürriyet glaubt zu wissen, das Krankenhaus von Reyhanli spiele bei der Untersuchung von Giftgasopfern eine entscheidende Rolle. In einem Interview mit NBC News meinte Erdogan, mit einem Chemiewaffeneinsatz sei die von Obama selbst gezogene "rote Linie" für eine Intervention überschritten.

© SZ vom 13.05.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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