Süddeutsche Zeitung

Türkei:Mutmaßliche Putschisten von der Bosporus-Brücke vor Gericht

  • Den Angeklagten wird vorgeworfen, in der Nacht auf den 16. Juli 2016 eine der großen Bosporus-Brücken in Istanbul mit Panzern gesperrt zu haben.
  • Die Soldaten sollen Zivilisten und Polizisten beschossen und getötet haben.
  • Unter den angeklagten Soldaten sollen auch diejenigen sein, die für den Tod eines engen Freundes von Präsident Erdoğan verantwortlich sein sollen.

Von Deniz Aykanat

In der Türkei liefen bereits einige Prozesse an, die sich mit der Putschnacht vom 15. auf den 16. Juli beschäftigen. In jenem Sommer 2016 sollen Teile des Militärs versucht haben, die islamisch-konservative AKP-Regierung zu stürzen. Die Verfahren werden sich noch Jahre hinziehen. Noch sind nicht einmal alle gestartet, es fehlen Richter, Staatsanwälte und Anwälte. Selbst einfachste Gerichtsverfahren könnten sich künftig auf Jahre erstrecken, weil das nötige Personal fehlt.

Der Justiz-Bereich ist mit am härtesten betroffen von Präsident Recep Tayyip Erdoğans "Säuberungen". So nannte er kurz nach Niederschlagung des Aufstandes die Maßnahmen, mit denen er seine Gegner seither auszuschalten sucht.

Der Prozess, der heute gegen 143 Soldaten in Istanbul beginnen soll, ist etwas Besonderes. Auch weil der türkische Präsident höchstpersönlich großes Augenmerk darauf legen wird. Mehr noch vermutlich als bei anderen Prozessen. Denn unter den angeklagten Soldaten sollen auch diejenigen sein, die für den Tod eines seiner Freunde verantwortlich sein sollen.

Den Angeklagten wird vorgeworfen, in der Nacht auf den 16. Juli 2016 an einer zentralen Stelle des Putschversuchs gewesen zu sein: einer der drei großen Bosporus-Brücken in Istanbul. Überall im Land gab es damals Kämpfe. Doch die Putschisten konzentrierten sich vor allem auf diese Punkte: das Militärhauptquartier und das Parlament in Ankara, den Urlaubsort des Präsidenten in Marmaris am Mittelmeer, den Atatürk-Flughafen in Istanbul - und eben die Brücke über den Bosporus, die aufgrund der Ereignisse, die dort in jener Nacht geschahen, in "Brücke der Märtyrer des 15. Juli" umbenannt wurde.

249 Menschen starben bei dem Putschversuch

Bei dem Putschversuch starben landesweit 249 Menschen, davon 34 allein auf dieser Brücke in Istanbul. Unter ihnen der Werbefachmann Erol Olçak, der ein enger Vertrauter von Präsident Erdoğan war und für dessen Regierungspartei AKP Werbekampagnen entwickelte.

Am Tag nach dem Putschversuch gingen Bilder um die Welt, die einen weinenden Erdoğan bei der Beerdigung seines Freundes Olçak und dessen 16-jährigen Sohnes zeigen, der ebenfalls auf der Brücke getötet wurde.

In jener Nacht blockierten die Panzer der Putschisten die mächtige Hängebrücke, die den europäischen und asiatischen Teil der Millionenmetropole verbindet. Polizisten und Zivilisten, die sich ihnen in den Weg stellten wie Olçak und sein Sohn oder zufällig den wichtigen Verkehrsknotenpunkt passierten, wurden erschossen.

Nur wenige Stunden nach der Niederschlagung des Aufstandes wurden von den Behörden bereits Listen mit Verdächtigen abgearbeitet, sie müssen schon weit vor dem 15. Juli 2016 existiert haben. Erdoğan nannte dies im Fernsehen eine "Säuberung", den Putschversuch "ein Geschenk Gottes". Endlich konnte er die ihm mittlerweile verhassten Anhänger des islamischen Predigers Fethullah Gülen aus Behörden, Schulen und Justiz entfernen lassen.

Tausende Menschen wurden seit Juli 2016 inhaftiert oder entlassen. Viele wegen des Vorwurfs, mit der kurdischen Terrororganisation PKK etwas zu tun zu haben oder linken Gruppierungen. Doch die meisten bekommen den Stempel "FETÖ". Unter diesem Kürzel läuft die Gülen-Bewegung offiziell seit einigen Jahren in der Türkei: Fethullahçı Terör Örgütü, zu Deutsch: Fethullahistische Terrororganisation.

Die AKP war nicht immer so schlecht auf die Gülen-Leute zu sprechen. Im Gegenteil. Jahrelang standen AKP und Gülen-Bewegung auf derselben Seite. Sie hatten dasselbe Ziel: Die Macht der Kemalisten zu brechen, also der laizistischen Staatselite vom Schlage Atatürks, denen die Religiösen als rückständig gelten. Die Erdoğan-Partei lieferte für dieses Vorhaben die politischen Strukturen, die Gülen-Bewegung gut ausgebildete fromme Leute und ein Netzwerk aus Unternehmen und Schulen.

2013 kam es zum Bruch, als Gülen-nahe Staatsanwälte umfangreiche Korruptionsermittlungen gegen zahlreiche AKP-Leute einleiteten, teilweise im engsten familiären Umfeld von Erdoğan. Seitdem sind Gülen und seine Bewegung der Staatsfeind Nummer eins in der Türkei.

Davon betroffen ist auch der Justizapparat. Der türkischen Seite Turkey Purge zufolge sind in diesem Bereich fast 4500 Menschen entlassen worden, insgesamt haben fast 140 000 Staatsbedienstete ihre Jobs verloren. Mindestens 2500 Richter und Staatsanwälte befinden sich der Quelle nach in Haft.

Nun sollen also die mutmaßlichen Putschisten von der Bosporus-Brücke vor dem 25. Strafgerichtshof in Istanbul zur Verantwortung gezogen werden, die Anklageschrift umfasst mehr als 1000 Seiten.

Wenige Erkenntnisse zu Rädelsführern

Unklar ist immer noch, wer von den beteiligten Soldaten in jener Nacht überhaupt wusste, dass er an einem Putschversuch teilnimmt. Seit den Ereignissen im Juli 2016 steht der Verdacht im Raum, dass viele der vor allem jungen Soldaten dachten, sie würden an einer Militärübung teilnehmen.

Vor einigen Tagen wurden im am Mittelmeer gelegenen Muğla 40 Angeklagte teils zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt. Die Männer - darunter auch ein früherer Brigadegeneral - wollten dem Urteil nach den türkischen Präsidenten in seinem Hotel in Marmaris töten. Weitere Prozessergebnisse - vor allem zu möglichen Rädelsführern des Putschversuches - gibt es allerdings noch wenige.

Das ist auch kaum möglich bei einem völlig ausgebluteten Justizapparat, der in Ermangelung von Nachrückern teilweise mit frischen Uni-Abgängern bestückt wurde, die keinerlei Erfahrung haben. Und die selbstverständlich der Regierung gewogen sein müssen.

Ob der nun beginnende Prozess in Istanbul Licht ins Dunkel bringen wird, bleibt abzuwarten. Fakt ist jetzt schon: Die türkische Justiz ist mit der Aufarbeitung des Putschversuchs massiv überfordert.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3697807
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ.de/fued/ghe
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.