Türkei:Merkels Seiltanz in der Türkei

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Schwierige Beziehung: Merkel und Erdoğan (Archivbild aus dem Jahr 2013) (Foto: picture alliance / dpa)
  • Beide Seiten haben ein Interesse am Fortbestehen des Flüchtlingspakts, die Türkei aber droht derzeit immer wieder mit der Aufkündigung.
  • Ein EU-Beitritt der Türkei steht derzeit nicht mehr zur Debatte, doch Erdoğan nutzt das Thema, um antiwestliche Ressentiments in der türkischen Bevölkerung zu schüren.
  • Kritiker der Merkel-Reise fordern von der Kanzlerin klare Worte zum Referendum, mit dem Erdoğan seine Macht noch ausbauen will.
  • Die deutsche Entscheidung über Türken, die nach dem Putschversuch gegen Erdoğan in Deutschland Asyl beantragt haben, könnte zum Eklat zwischen beiden Ländern führen.

Analyse von Deniz Aykanat

Erster Streitpunkt: Der Flüchtlingspakt

Das wichtigste Gesprächsthema zwischen Kanzlerin Angela Merkel und Präsident Recep Tayyip Erdoğan ist der bestehende Flüchtlingspakt zwischen der Türkei und der EU. Er ist der Hauptgrund, warum Merkel überhaupt so oft nach Ankara fliegt. Allein 2016 war Merkel drei Mal in der Türkei. Seit dem Putschversuch im Juli allerdings noch nicht.

Im Flüchtlingspakt mit der EU war unter anderem vereinbart worden, dass die Türkei Flüchtlinge zurücknimmt, die über die Türkei nach Griechenland gekommen sind. Im Gegenzug sollten die Einreisebestimmungen für türkische Bürger in die EU erleichtert werden - vorausgesetzt die Türkei ändert ihre Anti-Terror-Gesetzgebung. Schon vor dem Putsch weigerte sich die Türkei jedoch beharrlich, die Gesetzeslage zu ändern. Nach dem Putschversuch bewegt sie sich in dem Punkt erst recht nicht.

Die Türkei droht in regelmäßigen Abständen mit der Aufkündigung des Flüchtlingsdeals. Zuletzt vor wenigen Tagen, als das höchste griechische Gericht beschloss, dass acht türkische Soldaten, die in der Putschnacht mit dem Hubschrauber nach Griechenland geflüchtet sind, nicht in ihre Heimat ausgeliefert werden dürfen.

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Die EU und vor allem Merkel wollen unbedingt verhindern, dass der Deal platzt. Besuche in Ankara dienen deshalb wohl auch dazu, die türkische Regierung bei Laune zu halten. Seit die Balkanroute dicht ist und wegen des Türkei-Deals auch bei Weitem nicht mehr so viele Flüchtlinge über die Ägäis nach Griechenland gelangen, hat sich die Lage im übrigen Europa merklich entspannt. In Deutschland stehen dieses Jahr Bundestagswahlen an. Merkel hat also kein Interesse daran, ihre Wiederwahl durch ein Aufflammen der Flüchtlingskrise zu gefährden. Gleiches gilt für die Niederlande und Frankreich, wo im März beziehungsweise im April und Mai neue Regierungen gewählt werden.

Doch auch Erdoğan wird den Pakt nicht so leichtfertig aufgeben, wie es manchmal den Anschein macht. Durch den Flüchtlingsdeal bleibt die Türkei mit der EU im Gespräch, was für die Türkei nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht wichtig ist. Daneben hat die Türkei noch immer eines ihrer größten Ziele nicht erreicht: das visafreie Einreisen in die EU. Mit dieser Reiseerleichterung könnte die türkische Regierung bei der Bevölkerung punkten.

Der Pakt funktioniert in der Praxis - was die öffentliche Wahrnehmung betrifft, ist er für die EU-Türkei-Beziehungen ein Desaster. Die türkische Regierung behauptet immer wieder, sie würde die von der EU versprochene finanzielle Hilfe nicht im vollen Umfang erhalten, und fordert die zugesagte Visafreiheit. Die EU wirft der Türkei vor, weiterhin Flüchtlinge nach Griechenland durchzulassen, und fordert eine Reform der Anti-Terror-Gesetzgebung.

Zweiter Streitpunkt: Der EU-Beitritt

Erdoğan nutzt die aktuelle Lage aus, um mit antiwestlicher Rhetorik Wahlkampf zu machen und gleichzeitig die so wichtige Verbindung nach Europa zu halten. So sehen Kritiker wie der Vorsitzende der größten Oppositionspartei CHP, Kemal Kılıçdaroğlu, in Merkels Besuch auch eine Art unbeabsichtigte Wahlkampfhilfe für Erdoğan. Beim letzten hochrangigen Besuch aus Deutschland - es war der damals noch amtierende Außenminister Frank-Walter Steinmeier - wurde dieser vor laufenden Kameras vom türkischen Außenminister düpiert.

Das dürfte großen Teilen der Bevölkerung in der Türkei gefallen haben. Nach Jahren des Wartens an der Türschwelle zu Europa und mit einer Regierung, die Brüssel demonstrativ ablehnt, ist der Wunsch nach einem EU-Beitritt stark verblasst. Ein Erdoğan, der es dem Westen "jetzt so richtig zeigt", kommt bei der enttäuschten Bevölkerung gut an.

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Dass eine Vollmitgliedschaft in der EU in weite Ferne gerückt ist, ist beiden Seiten völlig klar. Erst vor wenigen Monaten votierte das Europaparlament dafür, die Beitrittsgespräche einzufrieren. Diese Entscheidung ist für die Mitgliedstaaten zwar nicht bindend, sendet aber klare Signale aus, wenngleich Erdoğan sich demonstrativ unbeeindruckt gab. Wenn also ein türkischer Minister alle paar Wochen verkündet, die Türkei sei nach wie vor natürlich an einem EU-Beitritt interessiert, dient dies allein dazu, im Gespräch zu bleiben.

Merkel war ohnehin nie eine Befürworterin einer Vollmitgliedschaft der Türkei, sondern warb immer für die privilegierte Partnerschaft mit der EU. Das ist eines der wenigen Asse in Merkels Ärmel, wenn sie am Donnerstag Ankara besucht. Die türkische Lira befindet sich auf Talfahrt, der türkischen Wirtschaft geht es nicht gut. Der frühere Aufschwung ist aber einer der Hauptpunkte, weshalb Erdoğan so beliebt bei der Bevölkerung ist. Er gilt als derjenige, der den Türken endlich Wohlstand gebracht hat. Will er diesen in seinem Land halten oder gar mehren, muss er gute wirtschaftliche Beziehungen mit der EU (einem der wichtigsten Absatzmärkte für türkische Produkte) aufrechterhalten. Erdoğans Bild, das er von der EU malt, darf also nicht zu schwarz ausfallen.

Dritter Streitpunkt: Das Referendum

Hier hat Merkel ein Glaubwürdigkeitsproblem. Selbst größte Merkel-Kritiker können ihr wohl kaum unterstellen, dass das Sterben der türkischen Demokratie in ihrem Sinne ist. Nichts anderes passiert aber, wenn Erdoğan mit seinem Referendum durchkommt, das aus der Türkei ein Präsidialsystem und Erdoğan zum fast autokratischen Herrscher macht. Merkel allerdings braucht eine Türkei, die stabil ist. Das Land ist geopolitisch ein wichtiger Partner, nicht nur wegen des Flüchtlingsabkommens, sondern auch wegen seiner Rolle im Syrien-Krieg und im Nahen Osten allgemein.

Sollte Erdoğans Referendum für ihn erfolgreich verlaufen, könnte es tatsächlich sein, dass der Machthunger des Präsidenten erst einmal gestillt ist und eine gewisse Ruhe ins Land einkehrt. Der Preis wäre aber hoch. Es wäre eine Stabilität auf Kosten all derer, die mit Erdoğan nicht einverstanden sind, auf Kosten der Menschenrechte, der Rechtsstaatlichkeit, auf Kosten des Minderheitenschutzes. Der neue Kurs, auf dem sich die Türkei seit einigen Jahren befindet, wäre dann konsolidiert. Und dieser Kurs führt sicher nicht in Richtung Europa.

Das aber wird Merkel vielleicht in Kauf nehmen. Womöglich wird sie sich gar nicht oder zumindest nicht eindeutig zum Referendum äußern. Deutschland hat erst vor Kurzem Investitionen in Millionenhöhe in die türkische Militärbasis İncirlik an der syrischen Grenze beschlossen. Merkel will die seit der Armenier-Resolution wieder einigermaßen entspannte Beziehung zur Türkei vermutlich nicht wieder aufs Spiel setzen. Teile der deutschen Bevölkerung und Merkels politische Gegner werden der Kanzlerin aber unter Umständen nicht mehr glauben, wenn sie das nächste Mal vom Wert der Menschenrechte spricht.

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Kritiker führen an, dass Merkel sich in der Flüchtlingsfrage ohnehin unnötig vorführen lasse. Die Zahl der in der Türkei ankommenden Flüchtlinge hat sich vergangenes Jahr massiv verringert. Das liegt zum Beispiel an der Mauer, die die Türkei seit Monaten an der Grenze zu Syrien baut. Offiziell verfolgt die Türkei zwar immer noch eine "open door"-Politik, doch die Realität ist, dass Syrer mittlerweile Visa beantragen müssen, um in die Türkei einzureisen. Direkt an den Landesgrenzen werden nur noch Verletzte hereingelassen. Dementsprechend könnte die Zahl der nach Griechenland kommenden Flüchtlinge niedrig bleiben, auch wenn die Türkei den EU-Deal aufkündigt.

Vierter Streitpunkt: Die Türken in Deutschland

Bei der Frage nach dem Referendum kann sich Merkel vielleicht noch heraushalten, indem sie sich darauf beruft, dass es sich um interne Angelegenheiten der Türkei handelt. Was asylsuchende Türken in Deutschland betrifft ( darunter auch Diplomaten und Offiziere), funktioniert das nicht. Hier könnte es zum Eklat kommen. Der türkische Verteidigungsminister Fikri Işık warnte Berlin bereits eindringlich davor, den betreffenden türkischen Staatsbürgern Asyl zu gewähren.

Merkel kann vor dem Disput nicht die Augen verschließen. Erstens, weil sie sich an das geltende Asylrecht halten muss. Und zweitens, weil sie sich bei der Bevölkerung in Deutschland unglaubwürdig macht, wenn sie einerseits mit Berufung auf die Genfer Flüchtlingskonvention Tausende Syrer ins Land lässt, andererseits aber türkische Staatsbürger ausliefert, die offensichtlich kein rechtsstaatliches Verfahren in ihrer Heimat zu erwarten haben. Die Bundesregierung hat bereits klargestellt, dass die Entscheidung über ein Asyl für die betreffenden Türken allein bei den zuständigen Behörden liege.

Der Fall erinnert an die Armenier-Resolution. Mit dieser hatte der Bundestag den Massenmord an der armenischen Bevölkerung im damaligen Osmanischen Reich offiziell als Völkermord deklariert. Merkel und mehrheitlich auch ihr Kabinett lehnten die Resolution ab, konnten sie aber nicht verhindern. Ähnlich liegt nun dieser Fall. Selbst wenn die Bundesregierung die Asylsuchenden der guten Beziehungen wegen ausliefern wollen würde, könnte sie sich nicht über die Gesetzgebung hinwegsetzen.

Ein Ass hat Merkel aber auch hier im Ärmel. Der Dachverband Ditib (Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion), in dem fast 1000 Moscheegemeinden und Vereine in Deutschland zusammengefasst sind, hat vor Kurzem zugegeben, dass Imame aus der Türkei, die in ihren Moscheen predigen, Gemeinden ausspioniert haben. Ditib ist zwar offiziell ein unabhängiger Verein nach deutschem Recht, untersteht aber faktisch dem Religionsamt (Diyanet) in der Türkei.

Die Imame sollten offenbar Menschen ans Ministerium in Ankara melden, die sie für Anhänger der Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen halten. Er gilt der türkischen Regierung als Drahtzieher des Putschversuchs vom Juli. Ditib bezeichnet die Causa um die Imame als "Versehen". Die betreffenden Imame seien bereits in die Türkei zurückgeschickt worden. Die Türkei hatte außerdem ihre Auslandsvertretungen angewiesen, Dossiers über "Verdächtige" zu erstellen und sie nach Ankara zu schicken.

Derartige Vorgänge kann die Kanzlerin nur schwerlich dulden. Schon nach der Pro-Erdoğan-Demo in Köln kurz nach dem Putschversuch war der Aufschrei in Deutschland groß. Kritik wurde laut, dass der lange Arm Erdoğans bis nach Deutschland reiche.

Der Putschversuch hat die ohnehin angespannten Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei merklich verkompliziert und verschlechtert. Dass die Türkei in Russland nun einen neuen Verbündeten ähnlicher politischer Couleur gefunden hat und nach Trumps Sieg, der ein Faible für Despoten zu haben scheint, auch in der Gunst der USA steigt, wird Erdoğan weiter Auftrieb geben.

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