Türkei:Merkel und Erdoğan sind gezwungene Partner

Merkel reist in die T¸rkei

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan und Kanzlerin Angela Merkel.

(Foto: dpa)

Wer von der Kanzlerin fordert, Europas Deal mit der Türkei aufzukündigen, übersieht vor allem eines: Es würde in erster Linie die Flüchtlinge treffen.

Kommentar von Nico Fried

Diese Diskrepanz ist ernüchternd: Noch nie waren Europa und die Türkei so sehr aufeinander angewiesen - und schon lange nicht mehr lagen die politischen Vorstellungen so weit auseinander. Ankaras Krieg gegen die Kurden und die Beschneidung demokratischer Grundrechte machen die Türkei zu einem Staat, mit dessen mächtigstem Repräsentanten, Präsident Erdoğan, man nicht viel zu tun haben wollte, wenn man nicht müsste.

Die Europäische Union und die Türkei haben sich aber dem Zuzug von Millionen Flüchtlingen aus Syrien, dem Irak und anderen Regionen zu stellen. In Europa hat vor allem Angela Merkels Regierung daran ein besonderes Interesse, weil der größte Teil der Menschen nach Deutschland möchte. Deshalb hat die Kanzlerin auf die Vereinbarung mit der Türkei, den Flüchtlingsdeal, hingewirkt. Daraus leiten Kritiker den Vorwurf ab, Merkel habe sich erpressbar gemacht, weil sie gegenüber Erdoğan nun zur Unterwürfigkeit gezwungen sei.

Zu Ende gedacht würde das bedeuten: Merkel ist schuld, dass der Präsident unbehelligt den Durchmarsch zur Autokratie riskieren kann; und womöglich liegt es auch noch an ihr, dass selbst Teile der Opposition in der Türkei ihrer Selbstentmachtung zustimmen. Das alles wäre wohl zu viel der Ehre für die Kanzlerin. In mancher Kritik schwingt eher die Hoffnung mit, Merkel möge mit ihrer Flüchtlingspolitik doch noch Schiffbruch erleiden. Sie selbst hat das jetzt zu Recht eine irritierende "Freude am Scheitern" genannt.

Die Kanzlerin ist zu Recht irritiert über die "Freude am Scheitern"

Es würde der Debatte nicht schaden, etwas aufgestaute Heuchelei entweichen zu lassen. Erdoğans Vorgehen gegen Kurden, Medien und andere Kritiker ist verheerend - aber unter den Empörten in Deutschland, die nun auf die Menschenrechte pochen, sind auch Kritiker, die diese Rechte eher großzügig auslegten, als an der griechisch-mazedonischen Grenze gestrandete Flüchtlinge vom Regen fast wie Abfall weggeschwemmt wurden. Und in der Historie der Christenparteien findet sich auch der Wunsch nach konsequenten Abschiebungen von Kurden in die Türkei - zu einer Zeit, als es Erdoğan noch nicht gab, wohl aber die staatliche Brutalität gegen die Minderheit.

Merkel hat Fehler im Umgang mit der Türkei gemacht. Nicht jetzt, sondern in der Vergangenheit. Sie hat aus Rücksicht auf CDU und CSU - und gegen den Rat ihrer jeweiligen Außenminister - die Annäherung Europas und der Türkei ausgebremst. Die EU unter Führung von Merkel und - damals - Nicolas Sarkozy hat die Türkei zu lange in einer Mischung aus Bevormundung und Herablassung behandelt. Das ist nicht der einzige, aber ein wichtiger Grund dafür, dass Erdoğan sich von Europa abgewendet hat.

Merkel hat den Flüchtlingsdeal vorangetrieben

Der Flüchtlingsdeal hat die Beziehungen nun neu verortet. Merkel hat ihn vorangetrieben, aber er ist eine Vereinbarung Europas mit Ankara - und das nicht nur, weil ihm alle EU-Staaten zugestimmt haben. Vielmehr ist 27 anderen Regierungen, zuzüglich der bayerischen Staatsregierung, keine bessere Lösung eingefallen, sieht man mal von der Idee ab, Menschen zu Zehntausenden an Zäunen ihrem Schicksal zu überlassen.

Die Türkei wiederum ist nicht deshalb der entscheidende Staat, weil die Kanzlerin ihn für diese Rolle ausgesucht hätte. Vielmehr hat sich die Türkei, als größtes Nachbarland Syriens, schon um Flüchtlinge gekümmert, als Europa sie noch zu Hunderten im Mittelmeer absaufen ließ. Kein anderer Staat hat so viele Menschen aus dem syrischen Bürgerkrieg aufgenommen. Und kaum ein anderes Land ist aus geografischen Gründen Transitland so vieler Flüchtlingsrouten - und leider auch der Kurden, die von der türkischen Regierung im eigenen Land zu Flüchtlingen gemacht werden.

Wer fordert, Europa solle den Deal wegen Erdoğans Gebaren aufkündigen, übersieht, dass dies in erster Linie die Flüchtlinge träfe. Für sie fließen die Milliarden in die Türkei, für sie ermöglicht das Abkommen statt lebensgefährlicher Überfahrten auf dem Mittelmeer geregelte Zugänge in die EU, wenn auch lächerlich wenige. Die Wahrscheinlichkeit, dass Erdoğan das Abkommen aufkündigt und die gesamte Flüchtlingsproblematik wieder Menschenhändlern übereignet, die seinem Staat mehr schaden als nützen, ist unter rationalen Gesichtspunkten gering - wobei Erdoğans Irrationalität nicht zu unterschätzen ist.

Wenn Merkel nun Erdoğan trifft, muss sie folglich weder aus Angst um ihre Flüchtlingspolitik duckmäusern, noch muss sie beweisen, dass sie nicht erpressbar ist. Sie sollte schlicht sagen, was ist: Der Flüchtlingsdeal richtig, der Umgang Erdoğans mit seinen Gegnern falsch. Beides darf man von ihr erwarten.

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