Türkei:Klima der Gewalt

Zwei Linksterroristen nehmen in Istanbul einen Staatsanwalt als Geisel. Am Ende sind alle tot. Gut zwei Monate vor den nächsten Parlamentswahlen beginnt die angeheizte Stimmung im Land sich zu entladen.

Von Mike Szymanski

Die Gewalt kommt mit der Finsternis. Am Dienstag legt ein Stromausfall stundenlang große Teile der Türkei lahm. Das hat es schon viele Jahre in dieser Heftigkeit nicht gegeben. Unter normalen Umständen fällt es schon schwer, in einer so wuseligen Stadt wie Istanbul von Ordnung zu sprechen. Was sie in diesen Stunden erlebt, kann man Chaos nennen. Aber als die Lichter allmählich wieder angehen, geht der Spuk erst so richtig los.

Um 12.36 Uhr dringen zwei Geiselnehmer in den Justizpalast Çağlayan ein. Besucher werden am Eingang normalerweise auf Waffen kontrolliert. Aber diese beiden Männer, nach Angaben der Nachrichtenagentur Anadolu 24 und 28 Jahre alt und Anhänger der linksextremistischen Terrorgruppe Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front, DHKP-C, geben sich als Anwälte aus. Sie haben ein Ziel: Das Büro von Staatsanwalt Mehmet Selim Kiraz, 46 Jahre alt. Die Angreifer überwältigen Kiraz, kleben ihm den Mund zu und halten ihm eine Pistole an den Kopf. Am Ende dieses Tages werden alle drei tot sein. Es sind noch gut zwei Monate bis zur Parlamentswahl in der Türkei. An diesem Dienstag beginnt die ohnehin angeheizte Stimmung im Land sich in Gewalt zu entladen.

Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan geht seit Monaten mit voller Härte gegen Kritiker vor. Journalisten werden eingesperrt. Wer es wagt, sich öffentlich abfällig über ihn zu äußern, muss wegen Beleidigung vor Gericht. Aus Spaß wird bitterer Ernst, man muss nur mal die Karikaturisten im Land fragen, wie schnell das gehen kann. Gerade erst hat die islamisch-konservative AKP-Regierung mit ihrer Parlamentsmehrheit Sicherheitsgesetze verabschiedet, die es der Polizei künftig leichter machen, gegen Demonstranten vorzugehen - sogar mit Waffengewalt. Die Regierung hat seit Dienstag ein Argument mehr, ihre harte Linie zu rechtfertigen.

Erdoğan brach einen Staatsbesuch in Rumänien ab. Vor seiner Rückreise sagte er: "Unser Kampf gegen den Terrorismus muss mit Entschlossenheit weitergehen." Justizminister Kenan Ipek erklärte: "Wir alle sind Mehmet Selim Kiraz."

Der Staatsanwalt ermittelte im Fall Berkin Elvan, einem 14-jährigen Jungen, der 2013 bei den Gezi-Unruhen von einer Tränengaskartusche der Polizei am Kopf getroffen wurde und nach monatelangem Koma starb. Die Ermittlungen ziehen sich hin. Die beiden Geiselnehmer stellten die Forderung, die Namen jener Polizisten zu veröffentlichen, die für Berkin Elvans Tod verantwortlich seien. Andernfalls werde der Staatsanwalt erschossen. Dazu kam es am Abend. Die Polizei stürmte das Büro.

Gewalt gegen Gewalt. Die DHKP-C sieht sie seit Gründung in den 70er Jahren als probates Mittel, um ihre Ziele zu erreichen. Die Gruppe hatte sich im Februar 2013 zu einem Selbstmordanschlag auf die US-Botschaft in Ankara bekannt. Am Mittwoch hat die türkische Polizei mehr als 60 Menschen festgenommen, berichtete Anadolu. Allein in Antalya nahm sie 19 mutmaßliche Linksextremisten in Gewahrsam. Istanbul kam auch am Mittwoch nicht zur Ruhedas Polizeipräsidium wurde angegriffen. Eine "Terroristin", die eine Bombe am Körper getragen habe, sei von Sicherheitskräften getötet worden, meldete Andolu. Ein zweiter Angreifer und ein Polizist seien verletzt. Die zwei Angreifer hätten am Eingang des Präsidiums das Feuer eröffnet. Die Hintergründe der Tat waren zunächst nicht bekannt.

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