Süddeutsche Zeitung

Türkei:Die türkische Justiz ist ein Scherbenhaufen

Die neuen Vorwürfe gegen den Mäzen Kavala sind absurd. Der Fall macht die Brüche im System einer absoluten, aber verunsicherten Macht sichtbar.

Kommentar von Christiane Schlötzer, Istanbul

Der türkische Schriftsteller Ahmet Altan war eine Woche in Freiheit, dann kamen sie wieder und nahmen ihn fest. Ein Istanbuler Gericht hatte den wortmächtigen Poeten im November 2019 nach einem kafkaesken Prozess von absurden Terrorvorwürfen freigesprochen, es nützte ihm nichts. Der Philanthrop Osman Kavala, ein Mann, der gewöhnlich eher zurückhaltend auftritt und keine großen Reden schwingt, konnte sich nur sechs Stunden der Illusion hingeben, er habe seine Freiheit wieder, nach zweieinhalb Jahren Untersuchungshaft in einer Einzelzelle in einem Hochsicherheitsgefängnis. Dann zog der Istanbuler Generalstaatsanwalt eine neue Haftorder aus dem Ärmel.

Die türkische Justiz ist ein Scherbenhaufen. Ob Freispruch oder Haftbefehl, mit Rechtsprechung hat dies alles nichts mehr zu tun. Eher schon mit Rache. Und dem Wahn, die Türkei sei von Feinden umstellt und unterwandert, wobei schon zum Feind ernannt wird, wer nur Präsident Recep Tayyip Erdoğans Allmacht kritisiert. Besonders gefährlich an dieser Feindsuche ist die in konservativen türkischen Kreisen mittlerweile weit verbreitete Legende, die Gegner der Türkei stünden irgendwo im Westen, und einem Mäzen wie Kavala, der mit westlichen Kulturinstitutionen kooperiert, sei schon deshalb nicht zu trauen.

Dahinter steckt ein altes türkisches Trauma, nun neu belebt, im Dienste der aktuellen Macht. Solche Konspirationen vergiften das gesellschaftliche Klima. Und diejenigen, die das immer gleiche Spiel nicht mitmachen wollen und für eine pluralistische Türkei eintreten, werden eingeschüchtert.

Dazu sollte der Prozess gegen Kavala und seine Mitstreiter dienen, er sollte diejenigen mundtot machen, die partout nicht den Mund halten wollen. In diesem Sinne war der Freispruch ein Unfall, ein nicht vorgesehenes Ereignis.

Überall gibt es Zweifler und Mahner

Wenn Kavala jetzt von einem Staatsanwalt vorgeworfen wird, er habe mit dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 zu tun gehabt, ist das genauso absurd wie die gerade in den Papierkorb der Justizgeschichte versenkte Anklage, er sei der Finanzier der Gezi-Proteste von 2013 gewesen. Sollte es zu einem neuen Prozess kommen, könnte dieser zu einer politischen Wasserscheide für die Türkei werden. Denn schon jetzt macht der Fall Kavala die Brüche im System einer absoluten, aber verunsicherten Macht sichtbar.

Da meldet sich der frühere Staatspräsident Abdullah Gül, einst einer der engsten Weggefährten Erdoğans, und zeigt den Gezi-Demonstranten, die damals einen kleinen Park verteidigten, noch im Nachhinein seinen Respekt - direkt nach Kavalas erneuter Festnahme. Im Staatsapparat, in der Justiz, in der Partei, in Wirtschaftsverbänden, überall gibt es Zweifler und Mahner, die sich eine Rückkehr der Türkei zu einem parlamentarischen System und einem funktionierenden Rechtsstaat wünschen. Aber nur wenige haben bislang den Mut gezeigt, auch offen dafür einzutreten. Zu groß ist bei vielen die Angst, es könnte ihnen ergehen wie Kavala und anderen, die mit fadenscheinigen Anklagen hinter Gefängnismauern verschwinden.

Für Kavala und seine Familie ist das Ganze ein menschliches Drama. In einem Staat, in dem man nicht darauf vertrauen kann, dass die Justiz zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden weiß, ist der Einzelne verloren. Aber den Schaden hat das ganze Land.

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SZ vom 20.02.2020/saul
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