Über dem Richtertisch steht, in Großbuchstaben: "Die Gerechtigkeit ist das Fundament des Landes." Das kann man auch ganz hinten im Saal lesen, wo die Zuschauer sitzen. Was man dort nicht sieht, sind die Gesichter der Richter und des Staatsanwalts, weil sie nicht auf den zwei Großleinwänden erscheinen, die den Richtertisch flankieren. Dort werden nur die Anwälte gezeigt, und die Angeklagten, wenn sie sprechen dürfen. Der Gerichtssaal von Silivri, im größten Gefängnis der Türkei, 70 Kilometer von Istanbul entfernt, ist für Massenprozesse gebaut. Einer der Anwälte vergleicht die Saalgröße - 1000 Quadratmeter - mit der Zelle von zehn Quadratmetern, in der sein Mandant Osman Kavala schon seit fast 630 Tagen festgehalten wird, "ohne gesetzliche Grundlage und im Widerspruch zum Verständnis eines modernen Staates". Kavala, so sagt sein Anwalt Köksal Bayraktar, müsse freigelassen werden.
Osman Kavala, einer der bekanntesten Philanthropen der Türkei, Partner des Goethe-Instituts und vieler internationaler Kulturvermittler, Unternehmer und Mäzen, 62 Jahre alt, sitzt in Einzelhaft. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm und 15 weiteren Angeklagten - Wissenschaftlern, Journalisten, Architekten - vor, sie hätten mit den Gezi-Protesten vor sechs Jahren die Regierung von Recep Tayyip Erdoğan zu stürzen versucht.
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Kavala wird beschuldigt, die Proteste, die in einem Park begannen, mit ausländischer Hilfe finanziert zu haben. Er hat dies von Anfang an bestritten. Es ist der dritte Verhandlungstag, und als der Angeklagte in den Saal geführt wird, über einen unterirdischen Zugang, erheben sich die etwa 300 Zuschauer und klatschen. Die Rampe, die man in den Saal gebaut hat, aus dem Untergrund, sorgt dafür, dass jedes Herein- und Herausführen des Angeklagten einem Theaterauftritt ähnelt. Wird Kavala in den Gerichtspausen weggebracht, winkt er den Zuschauern zu, dann applaudieren sie noch lauter. Die Anklage ist 657 Seiten lang.
Sie wurde anfangs von Leuten im Polizei- und Justizapparat zusammengetragen, die inzwischen selbst als Staatsfeinde gelten, wegen Teilnahme an dem Putschversuch im Juli 2016. Auch darauf verweisen die Anwälte, sie halten das Verfahren für ein "juristisches Desaster". Kavalas Unterstützer sprechen von einem politischen Prozess, weil Kultur in der Türkei auch Politik ist: Viele der NGOs und Künstler, die Kavala unterstützt hat, stehen eher der Opposition nahe als der Regierung.
Die übrigen Angeklagten sind nicht in Haft. Etwa die Hälfte ist anwesend, die anderen im Ausland. Kavala sagt zu seiner Verteidigung, auch nach seiner Festnahme seien keine Beweise gefunden worden, der Staatsanwalt habe ihn zu den Vorwürfen der Anklage nicht einmal befragt. Er berichtet von weiteren Ermittlungen gegen ihn im Zusammenhang mit dem Putschversuch von 2016. Sie stützten sich darauf, dass sein Handy denselben Funkmast in der Mitte Istanbuls nutzte wie ein angeblicher CIA-Agent. Eine Anklage gibt es dazu bislang nicht, aber Kavalas Anwälte vermuten, man wolle ihren Mandanten im Gefängnis behalten, falls er im laufenden Verfahren freikomme.
Dies aber geschieht erst mal nicht: Am Donnerstagabend entscheidet das Gericht, dass der 62-Jährige in Haft bleiben wird.
Am 8. Oktober geht der Prozess weiter. Am Freitag wird dann bekannt, dass eine Justizreform aufgeschoben ist. Erdoğan hatte sie im Mai - also vor der Wiederholung der Kommunalwahl in Istanbul - versprochen. Das Parlament hat sich in die Sommerpause begeben, ohne das Paket zu behandeln. Es hatte Hoffnungen auf Amnestien und die rasche Freilassung vieler Inhaftierter gegeben, darunter auch Journalisten. Regierungskritische Kommentatoren vermuten, der "Palast" habe die Reform selbst gestoppt. Erdoğan befürchte, die Opposition werde zu stark nach dem Sieg von Ekrem Imamoğlu bei der Oberbürgermeisterwahl in Istanbul im Juni.
In Istanbul läuft ein Prozess, dessen Grundlage Tweets von vor Jahren sind
Bestärkt werden die Kritiker durch einen Prozess, der parallel zum Verfahren gegen Kavala in Istanbul stattfindet. Angeklagt ist die Vorsitzende von Imamoğlus Partei CHP in der Metropole, Canan Kaftancıoğlu. Es geht um Präsidentenbeleidigung und Terrorpropaganda, Grundlage sind 35 Tweets aus den Jahren 2012 bis 2017. Anklage wurde Ende Mai erhoben, die Staatsanwaltschaft verlangt zwischen vier und 17 Jahren Haft. "Was ist meine Waffe?", fragte Kaftancıoğlu vor Gericht, "weder Geschütze noch Gewehre, sondern Tweets, die sieben Jahre alt sind." Die Anklage sei das Ergebnis eines Justizsystems, das nach den Bedürfnissen der Mächtigen arbeite. Weil der Präsident auch Parteichef sei, werde jede Kritik am Vorsitzenden der regierenden AKP als Präsidentenbeleidigung gewertet, sagte die 47-jährige Ärztin. Das sei "illegal".
Auch vor dem Istanbuler Justizpalast hatten sich viele Unterstützer versammelt. Eine Frau sagte, "wenn sie Canan bestrafen, werden sie noch mehr verlieren". "Sie soll den Preis dafür zahlen, dass die Opposition Istanbul nach 25 Jahren gewonnen hat", meinte ein Demonstrant. Der Prozess wird im September fortgesetzt.