Annullierte Wahl in Istanbul:Eine gefährliche Spende

Die Türkin Göknur Damat wurde nach einer Spende für den Istanbuler Oppositionskandidaten niedergestochen.

Selbstbewusst: "Ich habe meinen freien Willen", sagt Göknur Damat.

(Foto: Christiane Schlötzer)
  • Umgerechnet drei Euro spendete Göknur Damat für den Bürgermeisterkandidaten Imamoğlu, die Quittung veröffentlichte sie auf Twitter.
  • Daraufhin wurde sie in dem sozialen Netzwerk bedroht und wenig später auf der Straße niedergestochen.
  • Wegen ihres sozialen Engagements war die junge Frau auch schon von Präsident Erdoğan empfangen worden.
  • Andere Spender machen ihre Zahlungen nun ebenfalls öffentlich.

Von Christiane Schlötzer, Tekirdağ

Sie wollte ein wenig spazieren gehen, hatte das Haus gerade verlassen, es war drei Uhr nachmittags und kaum jemand unterwegs. An einem Sonntag im Fastenmonat Ramadan fließen die Tage in der türkischen Kleinstadt Tekirdağ eher träge dahin. Da hörte Göknur Damat, dass einer hinter ihr ging, der Mann holte auf. "Er trug einen Hut, war jung, gut angezogen", erinnert sie sich, und dass er fragte: "Bist Du das mutige Herz?" Das Messer, sagt sie, habe sie nicht gesehen. "Es hat ja alles nur etwa 30 Sekunden gedauert." Sie sah dann das Blut auf ihrem Bauch.

Zehn Tage nach dem Messerangriff sitzt Göknur Damat auf einem schwarzen Friseurdrehstuhl, sehr aufrecht, die Beine übereinandergeschlagen. Ihr streng gescheiteltes langes schwarzes Haar hat sie zum Pferdeschwanz gebunden, ihr Gesicht ist sorgfältig geschminkt. Damat ist 34, sie betreibt einen Schönheitssalon in Tekirdağ, das etwa zwei Autostunden von der Metropole Istanbul entfernt liegt. "Ich verstehe nichts von Politik", sagt sie. Der Anschlag könnte aber durchaus etwas mit dem vergifteten politischen Klima in der Türkei zu tun haben. Denn Damat war unmittelbar vor der Attacke über Twitter übel beschimpft und bedroht worden, als habe sie etwas Sündhaftes gewagt. "Verrecke", schrieb einer.

Dabei hatte sie nur getan, was eigentlich nicht der Aufregung wert sein sollte, weil es jedem Bürger zusteht. Sie hatte 20 Lira gespendet, etwa drei Euro, für Ekrem Imamoğlu, den Mann, der Bürgermeister von Istanbul werden will. Eigentlich war er es schon, 20 Tage lang. Dann setzte ihn die Wahlbehörde wieder ab, mit einer Begründung, die selbst dem sonst so regierungstreuen Chef des Gremiums zu windig war. Präsident Recep Tayyip Erdoğan hatte fast täglich Druck auf die staatliche Wahlaufsicht gemacht. Erdoğan sagte, seiner Partei, der AKP, seien bei der Kommunalwahl am 31. März in Istanbul "Stimmen gestohlen" worden. Davon steht zwar nichts im 250 Seiten langen Bericht der Behörde, trotzdem soll am 23. Juni noch einmal gewählt werden. Imamoğlu war seit einem Vierteljahrhundert der erste Politiker der säkularen Partei CHP, der das Bürgermeisteramt von Istanbul eroberte - wo einst Erdoğans Karriere begann.

Göknur Damat kann in Istanbul gar nicht wählen, sie lebt ja in Tekirdağ. Bei Imamoğlu aber, sagt sie, sehe sie "ein Leuchten", er sei für sie "eine Hoffnung für die Jugend, die Demokratie und Freiheit braucht". Sie glaube auch, "dass er unser Istanbul am besten verwalten kann". Deshalb habe sie gespendet. Parteien interessierten sie nicht, nur Personen.

Für Damat spielt gewiss auch eine Rolle, dass sie ein starkes Gerechtigkeitsgefühl hat. Und sie hat in ihrem Leben schon vieles überstanden, schon deshalb fürchtet sie sich nicht: "Die Türkei ist ein freies Land", sagt sie, "und ich habe meinen freien Willen."

Sie hat ihre Spendenquittung auf Twitter gepostet, dazu den Satz: "Alles wird sehr schön." Mit Schönheit kennt sie sich aus. Der Satz ist auch das Wahlkampfmotto von Imamoğlu. Soziale Medien haben in der Türkei eine überragende Bedeutung, neun von zehn Türken unter 30 Jahren nutzen sie aktiv, hat das Forschungsinstitut Konda ermittelt. Göknur Damat hat ihren Twitter-Account inzwischen geschlossen. Sie hat die Pöbeleien nicht mehr ertragen. "Das war psychologischer Druck." Diejenigen, die ihr den Tod wünschten, wussten womöglich, dass sie nicht zum ersten Mal gerade so mit dem Leben davon gekommen ist.

Erdoğan nannte sie "Adoptivtochter"

Denn Damat war schon vor der Messerattacke eine Berühmtheit, eine Hoffnungsträgerin auch. Weil sie etwas getan hat, für das es wenig Vorbilder in ihrem Land gibt. Mit 30 bekam sie Brustkrebs. Sie fragte ihre Ärzte: "Wie lange habe ich noch zu leben?" Sechs Monate, haben sie ihr gesagt. "In türkischen TV-Serien geht das dann so: Ein Mädchen bekommt Krebs, der Junge, der sie heiraten will, leidet, sie stirbt." Damat lacht, es klingt bitter, sie sagt: "Ich bin ein gläubiger Mensch, ich habe nicht rebelliert, aber ich habe mir überlegt, was mache ich mit der Zeit, die mir bleibt."

Sie hat dann den Schönheitssalon eröffnet, das war ihr Traum. Operation, Chemotherapie, das hat sie auch alles gemacht. "Und ich bin nicht gestorben." Stattdessen gewann sie internationale Preise als "Make-up-Artist". Eine Wand ihres Ladens ist voller gerahmter Urkunden von Wettbewerben und Weiterbildungen, in Dubai, den Niederlanden, der Schweiz. Die andere füllt ein Graffiti, ein bisschen punky, ein bisschen wild.

Ein Bild im Regal zeigt Göknur Damat bei einem Treffen mit Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan.

Präsident Recep Tayyip Erdoğan lobte einst den Mut der jungen Türkin, nannte sie "Adoptivtochter". Ein Bild in ihrem Regal zeigt die beiden bei einem Treffen.

(Foto: Christiane Schlötzer)

Weil sie einen Kleinkredit von einer staatlichen Organisation bekam und damit erfolgreich war, wurde sie im März 2017 in Erdoğans Palast eingeladen. 2000 Leute waren bei dem Empfang. Der Präsident hatte von diesem mutigen Mädchen aus Tekirdağ gehört. "Ich bekam ein spezielles Protokoll." Sie sagte Erdoğan dann, dass Tekirdağ ein Onkologisches Krankenhaus brauche und eine Palliativstation. Sie holt ihr Handy, sucht ein Foto. "Das ist Oğuz", sagt sie. Der Junge mit kahlem Kopf hatte Krebs. Damat war in seinen letzten Stunden bei ihm. "Er sagte mir, ich werde Kirschen und Wassermelonen im Paradies mit dir essen." Sie bekommt viele Bitten von Kranken, ihnen beizustehen, organisiert Spenden für teure Medikamente, schickt Haare aus ihrem Salon an Perückenmacher. Sie fühle sich "als Botschafterin" der Kranken, sagt sie. "Ich möchte, dass jemand einen türkischen Film macht, in dem das Mädchen nicht stirbt."

Ein Bild, das sie mit Erdoğan zeigt, steht auf ihrem E-Piano in einer Ladenecke. "Ich habe immer gesagt, dass ich stolz bin, mit unserem verehrten Staatspräsidenten gesprochen zu haben." Erdoğan hat sie "manevi kızı" genannt, das heißt so viel wie Adoptivtochter, in der Türkei ist das eine Art Ehrentitel. Nach der Spende für Imamoğlu wurde sie im Netz beschimpft, als sei sie eine Verräterin: "Und wir haben ihr eine Krone aufgesetzt", spottete einer.

Nach dem Anschlag habe sie kein Konservativer besucht, sagt Damat, nur Oppositionsleute waren da. Auch Imamoğlu. Er saß eine Stunde in ihrem Laden, beklagte eine "Lynchkultur" in der Türkei, bat alle, auf ihre Sprache zu achten, auch in den sozialen Medien. Es gibt ein Video davon. Göknur Damat ist der Schock noch anzusehen, sie hat die Schultern eingezogen, sagt: "Das war Gewalt gegen Frauen."

Inzwischen haben viele Menschen für Imamoğlu gespendet. Bis Freitag waren es 15 Millionen Lira, etwa 2,3 Millionen Euro, seit Bekanntgabe der Neuwahl am 6. Mai, sagt die CHP. Darunter sind viele Kleinspenden aus dem ganzen Land. Bekannte Künstler haben ihre Überweisungsbelege auch ins Internet gestellt, trotz der Drohungen aus der AKP mit Auftrittsverboten für Leute, die offen die Opposition unterstützen. Göknur Damat sagt: "Wir brauchen einen sozialen Frieden."

Den Täter sucht die Polizei noch. Damat hatte Glück. Der Stich war 3,5 Zentimer tief, er hat die Beinarterie knapp verfehlt. "Wenn einer hinter mir geht, ist das jetzt ein komisches Gefühl", sagt sie und zwirbelt ihren langen Haarzopf. "Aber das werde ich auch noch überwinden."

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