Urteil gegen Istanbul-OB:"Ein schwerwiegendes Unrecht"

Urteil gegen Istanbul-OB: Istanbuls Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu spricht am Mittwoch nach seiner Verurteilung zu seinen Anhängern.

Istanbuls Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu spricht am Mittwoch nach seiner Verurteilung zu seinen Anhängern.

(Foto: Khalil Hamra/AP)

Der Istanbuler Oberbürgermeister und Erdoğan-Widersacher İmamoğlu spricht aus, was viele Türken seit seiner Verurteilung zu einer Haftstrafe denken. Die Opposition spricht von Manipulation im Vorfeld der Wahlen.

Von Tomas Avenarius, Istanbul

Das Gerichtsurteil gegen Istanbuls Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu empört die türkische Opposition. Zugleich gefährdet der Richterspruch vor den anstehenden Wahlen die Wahlkampfstrategie der Gegner von Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Ein Istanbuler Gericht hat İmamoğlu am Mittwoch zu einer Haftstrafe verurteilt und ihm ein Politikverbot erteilt. Vertreter der oppositionellen "Sechserallianz" sprachen von einer krassen Manipulation des Rechtsstaats. Imamoğlu selbst, der der stärksten Oppositionspartei, der sozialdemokratischen CHP angehört und ein möglicher Kandidat bei den Präsidentschaftswahlen im Juni ist, nannte das Urteil vom Mittwoch "ein schwerwiegendes Unrecht". Er fügte hinzu: "Dies ist der Beweis, dass es keine Gerechtigkeit in der heutigen Türkei gibt."

CHP-Chef Kemal Kılıçdaroğlu nannte den Richterspruch ebenfalls einen "schweren Verstoß gegen das Recht und die Gerechtigkeit". Andere Oppositionsvertreter äußerten sich ähnlich. Die nationalistische Politikerin Meral Akşener reiste vor dem Urteilsspruch aus Ankara sogar eigens zu einer Großdemonstration in Istanbul an, um ihre Solidarität mit İmamoğlu zu demonstrieren. Abdullah Gül, ein früherer Staatspräsident und ehemaliger Weggefährte Erdoğans twitterte: "Die Gerichtsentscheidung ist nicht nur eine große Ungerechtigkeit gegenüber İmamoğlu, sondern auch gegen die gesamte Türkei."

"Erdoğan wird alles tun, um die Wahlen zu gewinnen"

Das Offensichtliche zu kritisieren, hilft der Opposition ein knappes halbes Jahr vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen allerdings noch nicht weiter. Das Gericht hat İmamoğlu zu zwei Jahren, sieben Monaten und 15 Tagen Haft verurteilt, wegen einer angeblichen Beleidigung der Hohen Wahlkommission im Jahr 2019. Wenige Tage vor der Urteilsverkündung war der Richter ausgetauscht worden, was die Opposition in ihrem Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens noch bestärkte: Der ursprüngliche Richter habe sich dem Druck widersetzt, ein hartes Urteil zu fällen, und sei deswegen in die Provinz versetzt worden.

Zwar hat der Istanbuler OB bereits Berufung gegen seine Haftstrafe wie auch gegen das langjährige Politikverbot eingelegt. Aber eine Kandidatur İmamoğlus bei den Präsidentschaftswahlen ist nun nach Ansicht von Juristen zu einem schwer kalkulierbaren Risiko für die Gegner von Staatspräsident Erdoğan geworden. Mit einem Kandidaten in Haft lässt sich keine Wahl gewinnen.

Urteil gegen Istanbul-OB: Bei den Protesten gegen seine Verurteilung spricht Imamoğlu am Mittwoch von einem Bus.

Bei den Protesten gegen seine Verurteilung spricht Imamoğlu am Mittwoch von einem Bus.

(Foto: Yasin Akgul/AFP)

Offiziell ist der 18. Juni der letztmögliche Wahltag für das Präsidentenamt und das Parlament. Für die Bewerbung um das höchste Staatsamt gibt es eine Frist, die die Oberste Wahlkommission verhängt. Da die Wahl aber auch früher als am 18. Juni abgehalten werden kann, etwa im April oder Mai, gibt es auch noch keine Frist. Und den Wahltermin festzulegen, liegt de facto in Erdoğans Hand.

"Erdoğan wird alles tun, um die Wahlen zu gewinnen", sagte der Istanbuler Rechtsanwalt Turgut Kazan der Süddeutschen Zeitung. Falls İmamoğlu kandidiere und die letzte gerichtliche Instanz das Urteil erst danach bestätige, könnte die Opposition wegen der unklaren Bewerbungsfrist eventuell keinen neuen Kandidaten mehr benennen. Dann stünde sie möglicherweise ohne überzeugenden Kandidaten gegen den erneut antretenden Amtsinhaber da, so der Jurist.

Die Opposition hat ihren Kandidaten noch nicht benannt

Da es in diesem Wahlkampf um den längst nicht mehr gesicherten Machterhalt für den seit fast 20 Jahren regierenden Erdoğan geht, muss die Opposition mit einer Instrumentalisierung des Wahlrechts rechnen. Das Oppositionsbündnis aus sechs Parteien hat noch keinen gemeinsamen Kandidaten benannt. Dies galt bisher als raffinierter Schachzug, da der erfahrene Wahlkämpfer Erdoğan bisher keinen Namen hat, gegen den er sich wenden kann.

CHP-Chef Kemal Kılıçdaroğlu scheint sich selbst für den besten Kandidaten zu halten, doch das sehen einige in der Sechserallianz anders. Kılıçdaroğlu hat keine Regierungserfahrung und gehört der islamischen Minderheit der Aleviten an, die viele sunnitische Muslime als Häretiker betrachten. Das Bündnis braucht zudem einen Kandidaten, der die kurdische Minderheit überzeugt. Die Kurden mit ihrer Partei HDP gelten bei dieser Wahl als Königsmacher; die HDP ist aber nicht Teil der Sechserallianz, sondern unterstützt diese nur.

İmamoğlu hatte 2019 die Wahl um das Oberbürgermeisteramt in Istanbul vor allem dank der Unterstützung der Kurden gewonnen, wenn auch nur knapp. Erdoğans Regierungspartei AKP ließ die Wahl annullieren und wiederholen. Doch Imamoğlu gewann erneut. Dies wurde als Niederlage Erdoğans gewertet.

Aus dieser Zeit stammen die Beleidigungsvorwürfe gegen Imamoğlu; er hatte nach seinem Sieg die Annullierung der Wahl als Werk von Idioten bezeichnet - und eigenen Angaben zufolge damit Regierungsvertreter gemeint. Die Justiz hingegen behauptete, er habe die Mitglieder der Wahlkommission gemeint, also Staatsvertreter beleidigt. Diese fragwürdige Auslegung eines Satzes İmamoğlus war Grundlage für den Richterspruch, der die Opposition nun den Sieg kosten könnte.

Möglicherweise stärkt das Urteil Erdoğans Gegner aber auch: İmamoğlu könnte zum Volkshelden werden, wenn das Urteil bestätigt wird und er in Haft kommt. So ist es zumindest dem amtierenden Staatschef einst ergangen: 1998, damals war er der Oberbürgermeister in Istanbul, wurde Recep Tayyip Erdoğan wegen "Beleidigung" verurteilt. Er hatte aus einem Gedicht zitiert, was ihm als islamistische Propaganda ausgelegt wurde. Vier Monate Haft saß er im Jahr danach ab. Das machte ihn berühmt, 2002 errang er mit seiner AKP einen überragenden Wahlsieg. Seitdem regiert er, zuerst als Premier und seit 2016 als Präsident.

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