Süddeutsche Zeitung

Wahlwiederholung in Istanbul:Entscheidung im Herzen der Türkei

  • Am Sonntag wird in Istanbul die Bürgermeisterwahl wiederholt, nachdem die AKP im Frühjahr das Wahlergebnis angezweifelt hatte.
  • Der Oppositionskandidat Ekrem Imamoğlu von der CHP gilt als Favorit, er hatte schon den ersten Wahlgang knapp gewonnen.
  • Der Posten ist von hoher politischer und symbolischer Bedeutung für die AKP und Erdoğan.

Von Christiane Schlötzer, Istanbul

Die Wettervorhersage für die türkische Sonnenküste ist hervorragend: Am Sonntag werden in Antalya 34 Grad erwartet, in Bodrum sind es satte 32. Weit und breit nichts zu sehen von Sandstürmen oder Schneeverwehungen, und auch das Meer wird sich nicht zurückziehen, wie Bürgermeister der Urlaubsorte auf ihren Webseiten warnten. "Das waren natürlich Scherzbotschaften", sagt Mustafa Özgür, Berater im Rathaus von Adana.

Adana, die fünftgrößte Stadt der Türkei, wird seit März von der CHP, der größten Oppositionspartei, regiert - wie viele Touristenhochburgen. Als die staatliche Wahlaufsicht die Bürgermeisterwahl in Istanbul annullierte und die Wiederholung in die Schulferien legte, reagierten viele Kommunen aus Solidarität mit Witz und Ironie: Parks und Picknickplätze geschlossen, wegen "Renovierung für die Demokratie". Und Istanbuler twitterten: "Am 23. Juni sind wir an der Urne, kein Urlaub."

Die Wahl am Bosporus beschäftigt das ganze Land. Der Kandidat der Opposition, Ekrem Imamoğlu, hat sich in atemberaubender Geschwindigkeit eine Bekanntheit verschafft, die ihn auf Platz zwei der türkischen Politik katapultierte, gleich hinter Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Weil Istanbul das Herz der Türkei ist, die Geldmaschine, der kulturelle Magnet des Landes, ragt die Bedeutung des Bürgermeisterpostens über alle anderen kommunalen Ämter hinaus. Jeder fünfte Wahlberechtigte lebt in Istanbul, insgesamt 10,5 Millionen Menschen. Vor 25 Jahren begann hier Erdoğans Karriere - im Rathaus. Und seit 25 Jahren hat es - vor Imamoğlu - kein Oppositioneller in das Amt geschafft.

Im Frühjahr hatte Erdoğan die Wahl in Istanbul zur Überlebensfrage für das Land erklärt und den Wahlkampf an sich gezogen. Dann überraschte Imamoğlu mit einem äußerst knappen Sieg - und der Präsident änderte die Strategie. Er spielte die Bedeutung des Amts herunter, sagte, der Bürgermeister sei ja nur "Schaufensterdekoration", denn die Mehrheit im Stadtrat liege bei seiner Partei, der AKP.

In den letzten Tagen dann die erneute Kehrtwende: Nun droht Erdoğan, man werde Imamoğlu vor Gericht stellen, und damit seinen politischen Weg "abschneiden" - wegen "Beleidigung" eines Gouverneurs. Dabei geht es um einen ziemlich absurden Vorgang: In der Schwarzmeerstadt Ordu hatte der Gouverneur Imamoğlus Delegation den VIP-Zugang am Flughafen versperrt. Daraufhin soll der Kandidat den Staatsbeamten "Köter" genannt haben. Imamoğlu bestreitet das. Erdoğan beharrt, den "Schlüssel" Istanbuls werde man "unserem Bruder Binali" überreichen, Binali Yıldırım, dem Kandidaten der konservativ-islamischen AKP.

Wird Erdoğan also versuchen, die Wahl erneut zu annullieren, sollte das Ergebnis nicht seinen Wünschen entsprechen? Und das Risiko in Kauf nehmen, dass Wahlen in der Türkei nichts mehr gelten? Das können sich selbst überzeugte AKP-Anhänger nicht vorstellen. "Wir sind doch Demokraten", sagt ein Wahlhelfer an einem Parteistand in Üsküdar, einem Bezirk auf der asiatischen Seite Istanbuls. "Aber wir werden nicht verlieren", da ist sich der Mann sicher. An der Zeltwand hängt, eingezwängt zwischen türkischer Fahne und Erdoğan-Porträt, ein Foto Yıldırıms, mit Beamtenschnurrbart und roter Krawatte. Der 63-Jährige wirkt bieder, bei seinen Auftritten gelegentlich auch müde. Von Ehefrau Semiha ist der Ausspruch überliefert, "die Wiederholung der Wahl ist eine Qual für unsere Wähler und für uns".

Es gibt nur wenig Laufkundschaft am AKP-Stand, zwei Männer interessieren sich für die Plastikkugelschreiber, ziehen sie aus dem Flyerbündel und gehen wieder davon. Vor dem Zelt tanzt eine Frau im Rhythmus des stampfenden Wahlkampfsongs, dessen Refrain lautet: Erdoğan.

Yıldırım war Erdoğans Premierminister, bis der Präsident das Amt abschaffte und alle Macht an sich zog. Der treue Parteisoldat wurde Parlamentspräsident, aber das Parlament hat in der neuen Verfassung wenig zu sagen. Am ehesten zehrt Yıldırım von seiner Zeit als Verkehrsminister. In Üsküdar zählen sie auf: Megaflughafen, Marmaray, die Bahn unter dem Bosporus. Dafür würden sie die AKP wählen. Erdoğans Großprojekte. Und wie finden sie den Gegner? "Ein Lügner" sei der.

"Gott beschütze vor Arroganz"

So nennt die Regierungspresse Imamoğlu täglich. Der macht darüber Witze. In ein Konferenzhotel hat er Hunderte Taxi- und Busfahrer eingeladen. Es geht laut zu, es wird krakeelt und geklatscht. Imamoğlu, 49, wirkt locker, wie der Gastgeber einer Gartenparty. Er sagt, die Regierung werde einen "eigenen Minister ernennen", nur um ihn mit "Spitzfindigkeiten" zu bekämpfen. Gelächter im Saal. Dann sagt er: "Gott beschütze vor Arroganz." Imamoğlu ist religiös und verbirgt es nicht, das ist selten für einen Politiker der säkularen CHP.

Auch die prokurdische HDP hat zu Imamoğlus Wahl aufgerufen, der ohne Stimmen der Kurden keine Chance hätte. Am Freitag taucht plötzlich ein angeblicher Brief des inhaftierten PKK-Gründers Abdullah Öcalan auf, bei der staatlichen Agentur Anadolu. Darin werden die Kurden zu "Neutralität" ermahnt. Bei der HDP und Öcalans Anwälten stößt das mysteriöse Schreiben auf Skepsis.

Fast alle Umfragen sehen Imamoğlu vorne. Auch die AKP verbreitet sie eifrig. Nur warum? Die Opposition nimmt an, dass die AKP damit die eigene Klientel an die Urnen bringen will - und den Wählern der Opposition signalisieren möchte: Ihr könnt ruhig im Urlaub bleiben.

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Quelle:
SZ vom 22.06.2019
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