Nach seiner Festnahme hat Istanbuls Bürgermeister Ekrem İmamoğlu die Justiz in der Türkei aufgefordert, sich gegen Korruption und politische Einflussnahme zu wehren. In einem Beitrag auf der Plattform X rief er Staatsanwälte und Richter dazu auf, gegen jene Kollegen vorzugehen, „die die türkische Justiz ruiniert“ und in der ganzen Welt in Verruf gebracht hätten.
İmamoğlu war am Mittwochmorgen bei einer großangelegten Razzia verhaftet worden. Auch das Bauunternehmen des Bürgermeisters hat der Staat beschlagnahmt. Dies teilte die Generalstaatsanwaltschaft von Istanbul am späten Mittwochabend mit. Derzeit befindet sich İmamoğlu in Polizeigewahrsam.
Der sozialdemokratische CHP-Politiker galt als aussichtsreichster Herausforderer von Präsident Recep Tayyip Erdoğan bei der nächsten Präsidentschaftswahl und sollte am Sonntag offiziell zum Kandidaten seiner Partei gewählt werden. Nur einen Tag vor der Festnahme war ihm sein Universitätsabschluss aberkannt worden – dieser ist eine Voraussetzung für die Kandidatur zum Präsidentenamt. In seinem X-Post warnte İmamoğlu die Bevölkerung, dass derjenige, der seinen Universitätsabschluss aberkannt habe, auch vor Enteignungen und Übergriffen gegen die Bürger nicht haltmachen werde.
Am Tag nach der Festnahme gingen die Proteste in der Türkei weiter. Studierende mehrerer Universitäten forderten unter anderem den Rücktritt der Regierung. Laut dem Nachrichtenportal Birgün kam es an der Istanbul-Universität sowie an der Galatasaray-Universität in Istanbul, der Hacettepe-Universität in Ankara und weiteren Hochschulen zu Demonstrationen. In Istanbul bleibt das zuvor verhängte Demonstrationsverbot in Kraft.
37 Menschen wegen „provokanter“ Beiträge in den sozialen Medien festgenommen
Bereits am Vortag hatten Tausende Menschen in Istanbul und Ankara gegen die Festnahme demonstriert und Erdoğans Rücktritt gefordert. Die Demonstranten warfen ihm vor, durch die Festnahme seinen größten Rivalen ausschalten zu wollen. Am Rande der Proteste kam es zu Ausschreitungen und Festnahmen, wie Medien berichteten. In der Provinz Istanbul verbot der Gouverneur Demonstrationen für vier Tage.
İmamoğlus Partei CHP, die wichtigste Oppositionskraft in der Türkei, sprach von einem versuchten Staatsstreich. Erdoğan äußerte sich bisher nicht zu dem Fall – auch nicht am Abend in einer Rede. Kritik am Vorgehen gegen İmamoğlu gab es nicht nur in der Türkei und aus Brüssel, auch in Berlin wurde demonstriert. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bezeichnete die Festnahme als „äußerst besorgniserregend“.
Mit İmamoğlu wurden laut der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu mindestens 87 weitere Personen festgenommen, gegen 106 werde insgesamt ermittelt. Etliche soziale Netzwerke sowie Kurznachrichtendienste waren nur eingeschränkt nutzbar. Innenminister Ali Yerlikaya teilte am Donnerstag mit, die Behörden hätten auf der Plattform X 261 Konten mit Beiträgen identifiziert, „die zu Straftaten und Hass aufstacheln“. Davon seien 62 im Ausland gemeldet. Nach eigenen Angaben hat die türkische Regierung 37 Menschen wegen „provokanter“ Beiträge in den sozialen Medien festgenommen.
İmamoğlus Sieg bei der Bürgermeisterwahl 2019 in Istanbul, der bevölkerungsreichsten Stadt und Provinz, gilt als bis dahin größte Niederlage der Partei Erdoğans. Seine islamisch-konservative AKP hatte die Metropole bis dahin regiert. Bei den Kommunalwahlen 2024 gewann İmamoğlu in Istanbul dann sogar ein weiteres Mal.