Süddeutsche Zeitung

Homophobie in der Türkei:"Der Islam verflucht Homosexualität"

Der oberste sunnitische Geistliche des Landes hetzt gegen Schwule. Und Präsident Erdoğan gibt ihm dezidiert Recht. Das ist auch in Deutschland ein Problem.

Von Tomas Avenarius, Istanbul

Die Umfrage der Istanbuler Bahçeşehır-Universität ist schon etwas älter. Aber sie sagt bis heute Einiges über die Türkei aus. Neben wem als Nachbar man denn um keinen Preis wohnen wolle, wurde gefragt. 87 Prozent der Umfrage-Teilnehmer antworteten: neben einem Schwulen. An zweiter Stelle kamen Trinker, an dritter erst Atheisten. Die Erhebung ist von 2009, in den vergangenen zehn Jahren ist die türkische Gesellschaft zumindest in den großen Städten deutlich liberaler geworden. Und das, obwohl Recep Tayyip Erdoğan und seine AKP für eine betont konservative, islamorientierte Politik stehen.

Jetzt aber hat der oberste sunnitische Islam-Gelehrte mit einer Äußerung über Homosexuelle nicht nur in der Türkei, sondern auch in Deutschland Empörung ausgelöst - und sogar Rückendeckung von Erdoğan selbst bekommen. Ali Erbaş, Chef der obersten staatlichen Religionsbehörde Diyanet, sagte während einer Ramadan-Predigt, Ehebruch und Homosexualität verursachten Krankheiten wie Aids und seien Degenerationserscheinungen. Der Islam verfluche Homosexualität, sagte der Kleriker, als Präsident der islamischen Religionsbehörde Diyanet immerhin die höchste Autorität des sunnitischen Islam in der Türkei: "Lasst uns zusammen handeln, um die Menschen vor diesem Bösen zu schützen."

Noch mehr Gewicht bekamen die homophoben Sätze, als der Staatschef sich hinter den Kleriker stellte: Die Worte des Diyanet-Chefs seien für gläubige türkische Sunniten verpflichtend, so Erdoğan: "Was er sagte, ist vollkommen richtig." Nicht-Muslime wie Christen und Juden seien zwar nicht betroffen, erklärte der Präsident. Aber weit mehr als 80 Prozent der türkischen Bevölkerung sind ohnehin Sunniten.

Ausdruck der veränderten innenpolitischen Lage

Erdoğan ging noch weiter. Islamisch-religiöse Fragen lägen in der Türkei eindeutig in der Hand des Diyanet, sagte der Staatschef. Die sei eine staatliche Behörde. Wer den Vorsitzenden des Amtes für religiöse Angelegenheiten angehe, greife also den Staat selbst an.

Erdoğan bezog sich auf die Beschwerde einer türkischen Menschenrechtsorganisation und der Anwaltskammer von Ankara. Die beiden Organisationen hatten die Äußerungen von Erbaş als Hetze bei der Staatsanwaltschaft angezeigt; im Gegenzug ermittelt nun die Staatsanwaltschaft gegen die Anwaltskammer, weil die Juristenvertretung "die religiösen Gefühle des Volkes" verletzt habe.

Die Predigt des Diyanet-Chefs ist Ausdruck eines sich seit den "Gezi"-Protesten von 2013 und vor allem seit dem gescheiterten Putsch von 2016 verändernden innenpolitischen Klimas in der Türkei. Vor seiner ersten Wahl zum Regierungschef im Jahr 2002 hatte Erdoğan sich zumindest den Worten nach noch für die Rechte von Schwulen und Lesben stark gemacht, ihnen Schutz vor gesellschaftlicher Diskriminierung versprochen. Aus dem Mund eines konservativen Politikers in einer muslimisch-konservativen Gesellschaft wie der damaligen Türkei war das alles andere als selbstverständlich.

Auch wenn sexuelle Minderheiten im Land bis heute diskriminiert werden, verbesserte sich ihre Lage zumindest in den Metropolen eine Weile. 2003 fand der erste Gay-Pride-Marsch in Istanbul statt, die Teilnehmerzahl stieg im Lauf der Jahre bis 2015 immer weiter an. Dann aber wurde die Regenbogen-Parade verboten, offiziell wegen des Fastenmonats Ramadan, in den der Marsch damals fiel. In Wahrheit steckte hinter dem Verbot der härtere Kurs gegen Oppositionelle seit den Protesten, die im Istanbuler Gezi-Park ihren Ausgang nahmen. Seit 2015 findet die Regenbogen-Parade überhaupt nicht mehr statt.

Außerhalb der Großstädte hat sich wenig geändert

Homosexualität ist in der Türkei kein Straftatbestand wie in zahlreichen anderen muslimischen Staaten. Künstler wie die transsexuelle Diva Bülent Ersoy oder der Sänger Zeki Müren sind Massenstars. Unter der Oberfläche aber scheint sich vor allem außerhalb der großen Städte wenig geändert zu haben. Homosexualität kann weiterhin ein Ausmusterungsgrund beim Wehrdienst sein, es kommt immer wieder zu Gewalttaten, die Polizei führt Razzien gegen Treffpunkte und Clubs von Homosexuellen durch.

Die homophoben Äußerungen des Klerikers betreffen aber nicht nur die Türkei, sondern auch Deutschland. Die türkische Religionsbehörde Diyanet ist sehr eng bunden mit dem größten deutschen Moscheen-Verband Ditib. Diyanet beeinflusst die türkische Muslimgemeinde in Deutschland direkt und indirekt. Offiziell sind beide Organisationen nach Darstellung Ankaras zwar nicht miteinander verbunden, doch stammen viele Ditib-Mitarbeiter aus Diyanet-Strukturen, die führenden Vertreter sind Diyanet-Mitarbeiter oder andere türkische Staatsbeamte. Der Diyanet-Chef ist Ehrenpräsident des Ditib, der Religionsattaché der türkischen Botschaft und Mitarbeiter der Konsulate haben Mitsprache beim Ditib, Diyanet steuert die Ausbildung der Ditib-Kleriker in Deutschland mit. In einzelnen Bundesländern arbeitet Ditib bei der Erstellung der Konzepte für den Islam-Religionsunterricht mit.

Und genau über die Frage, inwieweit sexuelle Vielfalt im Unterricht erwähnt werden sollte, hat es immer wieder Streit gegeben.

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