Türkei:Erdoğan auf Kuschelkurs

Der türkische Präsident kann offenbar auf Knopfdruck vergessen: all die Beleidigungen, Provokationen, Rüpeleien. Er stimmt milde Töne an - denn Ankara braucht die EU für ihr Wachstum.

Kommentar von Mike Szymanski

Türkei: Recep Tayyip Erdogan (Mitte) während seines Brüssel-Besuchs mit Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker (links) und Ratspräsident Donald Tusk (rechts).

Recep Tayyip Erdogan (Mitte) während seines Brüssel-Besuchs mit Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker (links) und Ratspräsident Donald Tusk (rechts).

(Foto: AP)

Recep Tayyip Erdoğan scheint eine Politik ohne Gedächtnis zu betreiben. Der türkische Staatspräsident hat die Gabe, einfach eine Löschtaste drücken zu können, etwa nach einem Besuch in Brüssel vergangene Woche.

Die empörenden Nazi-Vergleiche? Gelöscht. Erpressungsversuche in der Flüchtlingskrise? Gelöscht. Abbruch des türkischen Rechtsstaats? Gelöscht. So sieht das aus, wenn Erdoğan dabei ist, eine neue Phase seiner Politik einzuleiten.

Der Präsident ist gerade von einer Weltreise zurückgekehrt. Er war bei den ganz Mächtigen. Er war in Russland bei Wladimir Putin. Er war in den USA bei Donald Trump. Beide haben ihn spüren lassen, dass er nicht in ihrer Liga spielt.

Zum Abschluss kam er nach Brüssel. Dieser Teil der Reise war von besonders wenig Getöse und öffentlichem Machtgehabe begleitet.

Wer Erdoğans Politik verfolgt, sah bis vor Kurzem noch einen Zerstörer am Werk. Bis Mitte April befand er sich im Wahlkampf für die Abstimmung über die neue Präsidialverfassung. Er drohte mit einem Referendum über den Abbruch der Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union und mit einem zur Wiedereinführung der Todesstrafe.

Erdoğan stimmt jetzt milde Töne an. Warum ausgerechnet jetzt?

Jetzt, nachdem er die Abstimmung für sich entschieden hat, möchte er sich und der EU ein Jahr Zeit für Gespräche geben und ausloten, wo ein gemeinsamer Weg hinführen könnte. So vieles liegt in Trümmern, angefangen beim wohl wichtigsten Gut, dem Vertrauen.

Aber Erdoğan denkt nicht an die Kränkungen der Gegenwart. Wo es Zeit wäre für eine gründliche Schadensaufnahme, plant er schon wieder für die Zukunft.

Gerade deshalb stellt sich die Frage, was von seinem Annäherungsversuch zu halten ist? Bei diesem Mann geht es zunächst um Eigennutz. Der knappe Ausgang des Referendums über das Präsidialsystem lässt sich auf zwei Arten lesen.

Die Sicht der Anhänger: Erdoğans scharfe, ausfallende Attacken auf die EU hätten ihm erst zum Sieg verholfen. Vor allem im Ausland lebende Türken hätte er damit mobilisiert.

Die plausiblere Variante aber ist: Der Anti-EU-Kurs hätte Erdoğan fast das Präsidialsystem gekostet. Am Ende war der Vorsprung viel knapper als prognostiziert. Es waren die Wähler in den wirtschaftlich starken Zentren des Landes, vor allem auch die Konservativen, die sich im Referendum von Erdoğan abgewendet hatten.

Erdogan ist auf die EU angewiesen

Erdoğans Erfolg gründet vor allem auf der wirtschaftlichen Stärke des Landes. Aber die ist untrennbar mit der EU verbunden. Erdoğan kann sich eine Abkoppelung von der EU nicht leisten.

Das zeigt sich bei der Debatte um die Vertiefung der europäisch-türkischen Zollunion, die sich die Türken wünschen. Würde neben der Industrie zusätzlich der Agrar- und Dienstleistungssektor in das Abkommen einbezogen, könnte allein dies das türkische Bruttoinlandsprodukt um knapp zwei Prozent in zehn Jahren heben. Der Export in die EU könnte um 70 Prozent steigen. Erdoğan schwärmt gerne von seiner "neuen" Türkei - ohne die EU an der Seite bleibt sie aber alt und unvollständig.

Mit dem schrittweisen Übergang zum Präsidialsystem, das fast alle Macht in die Hände Erdoğans legt, hat sich die Türkei noch einmal ein ganzes Stück von der EU entfernt. Der Beitritt ist zur Illusion geworden. Selbst das von Kanzlerin Angela Merkel einst so propagierte Konzept einer privilegierten Partnerschaft wäre zu viel der Belohnung, solange die Türkei Freiheitsrechte aufs Gröbste missachtet und Erdoğan das demokratische Fundament weiter entkernt.

Momentan wäre es schon ein großer Fortschritt, wenn der Türkei und der EU ein Miteinander ohne Beschimpfungen und Dauerdrohungen gelänge, eine Beziehung ohne allzu große Erwartungen. Daran immerhin lässt sich arbeiten.

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