Türkei:In der Türkei beginnt der Prozess gegen Meşale Tolu

Ein Plakat mit einer Solidaritätsbekundung für Meşale Tolu.

In Neu-Ulm und anderen Städten haben sich Unterstützergruppen für Meşale Tolu gebildet.

(Foto: Stefan Puchner/dpa)
  • In der Türkei beginnt der Prozess gegen die deutsche Journalistin Meşale Tolu. Sie wird beschuldigt, an Veranstaltungen teilgenommen zu haben, bei denen für die Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP) geworben worden sein soll.
  • Tolu wird deshalb seit April im Gefängnis festgehalten, ihr zweijähriger Sohn ist bei ihr.
  • Bei einer Verurteilung drohen Tolu bis zu 15 Jahre Haft. Ihre Anwältin hält das Verfahren für politisch motiviert.
  • Der Fall hat in Deutschland Empörung ausgelöst. Die Bundesregierung hat sich bisher vergeblich für Tolus Freilassung eingesetzt.

Von Luisa Seeling

Der Albtraum beginnt am 30. April gegen 4.30 Uhr morgens. Meşale Tolu und ihr Sohn sind zu Hause, als etwa 20 maskierte und bewaffnete Männer in ihre Istanbuler Wohnung eindringen. Sie drücken die Mutter auf den Boden und fesseln sie mit Handschellen, der Junge, zwei Jahre alt, weint. Da droht ihm ein Polizist: "Wenn du nicht aufhörst, nehmen wir dich auch fest."

So erzählt es später Tolus Vater. Ali Rıza Tolu, ehemals Automechaniker in Ulm, nun im Ruhestand, besucht seine Tochter regelmäßig im Gefängnis. Seit jener verhängnisvollen Nacht, als ein Anti-Terror-Kommando Meşale Tolu mitnahm, wohnt der 58-Jährige auf unbestimmte Zeit in Istanbul. Die Polizisten ließen den Jungen damals bei Nachbarn zurück. Der Kleine war schwer traumatisiert, erzählt sein Großvater. Nicht nur die Mutter war weg - auch sein Vater, Suat Çorlu, saß da schon seit einigen Wochen in Untersuchungshaft. Tolu und ihre Familie trafen eine schwere Entscheidung: Der Junge sollte bei der Mutter bleiben, im Istanbuler Frauengefängnis Bakırköy. Alles schien besser zu sein, als ihn von ihr zu trennen.

Wenn an diesem Mittwoch und Donnerstag der Prozess gegen Meşale Tolu eröffnet wird, geht es also um viel: Nicht nur darum, ob die 33-Jährige vorläufig auf freien Fuß kommt. Sondern auch darum, ob ihr Sohn bald wieder so etwas wie einen normalen Alltag mit ihr außerhalb einer Gefängniszelle erleben darf. Die Übersetzerin und Journalistin ist eine von 18 Angeklagten, denen wegen Propaganda und Mitgliedschaft einer terroristischen Organisation der Prozess gemacht wird.

Die Anklage gegen die Journalistin beruht vor allem auf einer anonymen Aussage

Tolu stammt aus einer politisch links stehenden Familie. Ihr Vater bezeichnet sich als Sozialist, ihr Mann engagierte sich für die Sozialistische Partei der Unterdrückten (ESP) und die prokurdische Demokratische Partei der Völker (HDP). Tolu selbst arbeitete für die kleine linke Nachrichtenagentur Etha, die von den Behörden noch nicht geschlossen, deren Website aber gesperrt wurde.

Tolus Anwältin Kader Tonç hält die Beweislage gegen ihre Mandatin für dünn. Die Anklage beruht vor allem auf einer anonymen Zeugenaussage. Tolu wird vorgeworfen, an Veranstaltungen teilgenommen zu haben, bei denen für die Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP) geworben worden sei. Einmal habe sie ein Banner einer MLKP-Splitterpartei getragen; in ihrer Wohnung sei zudem Propagandamaterial gefunden worden. Die MLKP ist in der Türkei als Terrororganisation verboten, in Deutschland werden ihre Anhänger vom Verfassungsschutz beobachtet. Sollte Tolu verurteilt werden, drohen ihr bis zu 15 Jahre Haft.

Tolu und ihr Sohn teilen sich eine Zelle mit 24 anderen Frauen

Ihre Anwältin sagt, an diesen ersten Prozesstagen gehe es vor allem darum, Tolu aus der Untersuchungshaft freizubekommen. Das Verfahren hält Tonç für politisch motiviert, "auch das Urteil wird politisch motiviert sein". Man habe "erst die Verdächtige festgenommen und dann nach Beweisen gesucht", sagt die Verteidigerin.

Tolus Fall hat in Deutschland ähnliche Empörung ausgelöst wie die Inhaftierungen des deutschen Menschenrechtsaktivisten Peter Steudtner und des deutsch-türkischen Welt-Korrespondenten Deniz Yücel. Tolu ist in Ulm geboren, 2007 erhielt sie die deutsche Staatsbürgerschaft, sie gab die türkische ab. In Deutschland ist die Solidarität groß, in Tolus Heimatstadt Neu-Ulm und anderswo haben sich Unterstützerkreise gebildet. Die Bundesregierung hat sich bisher vergeblich eingesetzt für Tolus Freilassung. Mitarbeiter des deutschen Konsulats besuchen sie jede Woche. Ihr Vater ist überzeugt, dass die Verhaftung in erster Linie mit ihrem deutschen Pass zu tun hat. Seine Tochter sei politische Geisel im Streit zwischen Ankara und Berlin.

Meşale Tolu und ihr Sohn teilen sich in Bakırköy eine Zelle mit 24 anderen Frauen. Spielzeug ist nicht erlaubt, eine Stunde am Tag dürfen sie in den Hof. In regelmäßigen Abständen bringt der Großvater seinen Enkel ins Hochsicherheitsgefängnis in Silivri im Westen Istanbuls, wo der Vater einsitzt. Sein Verfahren soll Ende November beginnen, die Vorwürfe lauten ähnlich wie gegen seine Frau. Ihr Prozess findet ironischerweise genau dort statt, hinter den Gefängnismauern von Silivri, wenige Meter Luftlinie von ihrem Mann entfernt.

Kader Tonç sagt, es gehe ihrer Mandantin den Umständen entsprechend gut. Sie sei gesund und guter Dinge. Tolu selbst schrieb aus dem Gefängnis, sie sei sicher, dass diese dunkle Zeit verfliegen werde. "Egal wie finster die Nacht ist, der Morgen ist umso heller."

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