Ekrem İmamoğlu, der abgesetzte und inhaftierte Oberbürgermeister von Istanbul, hat seine Anhörung am Freitag genutzt, um der Öffentlichkeit einige Dinge mitzuteilen. Nicht dass er verstummt wäre, seit die Polizei ihn abgeholt hat, sein Team füllt weiterhin jeden Tag seinen Account auf X. Aber am Freitagmorgen sprach İmamoğlu selbst, während vor dem Silivri-Gefängnis bei Istanbul Unterstützer demonstrierten.
Er sei in Haft, sagte İmamoğlu dem Richter laut der Zeitung Evrensel, „weil ich drei Wahlen gewonnen habe“. Damit meint er die beiden Bürgermeisterwahlen von 2019, den ersten Wahlsieg hatte ihm die Wahlbehörde damals aberkannt, und seinen erneuten Sieg im vergangenen Jahr. Präsident Erdoğan nannte er zwar nicht beim Namen, sagte aber, dass „jemand“ denke, „dass er Istanbul besitzt“.
Viele glauben, das Verfahren sei politisch motiviert
İmamoğlu zitierte Erdoğans alten Satz, wonach, wer Istanbul gewinne, auch die Türkei gewinne. „Deswegen bin ich verhaftet worden“, sagte er. Weil er, anders gesagt, dem Präsidenten gefährlich wurde. Die oppositionelle CHP wählte İmamoğlu im März, da war er schon in Gewahrsam, zu ihrem Präsidentschaftskandidaten.
In Silivri ging es am Freitag noch gar nicht um die Korruptionsvorwürfe, deretwegen İmamoğlu dort in Untersuchungshaft sitzt, die Akte halten türkische Juristen für äußerst dünn. Nicht bloß İmamoğlus Partei betrachtet das Verfahren als politisch motiviert, Erdoğan wolle seinen Gegner aus dem Rennen nehmen. Auch weite Teile der Gesellschaft glauben das.
Als der Oppositionelle jetzt vor dem Richter erschien, ging es einerseits um angeblichen Betrug bei Ausschreibungen aus der Zeit vor 2019, als İmamoğlu nur einen Istanbuler Bezirk regierte. Andere Vorwürfe stammen aus dem Februar dieses Jahres, einer Zeit, als die Justiz nach und nach immer neue Anklagen gegen ihn erhob. İmamoğlu warf einem der Staatsanwälte dann vor, direkt im Auftrag des Präsidialamts zu handeln. Der Oberbürgermeister stand noch auf der Bühne, da erhob die Generalstaatsanwaltschaft schon Anklage gegen ihn. Wegen „gezielter Angriffe auf Personen, die an der Terrorismusbekämpfung beteiligt sind“, so heißt es.
„Lassen Sie die Studenten frei“, fordert der Inhaftierte
Das Strafmaß, das die Ankläger dafür fordern, liegt bei mehr als sieben Jahren Haft und Politikverbot. Ein ähnliches Urteil war gegen İmamoğlu schon Ende 2022 ergangen, damals wegen angeblicher Beleidigung der Wahlbehörde. Auch wegen der Gefahr, dass das damalige Urteil rechtskräftig werden könnte, nominierte seine Partei İmamoğlu im Frühling 2023 nicht als Präsidentschaftskandidaten. Viele glauben, dass Erdoğan nur deswegen noch einmal gewann, weil İmamoğlu nicht antrat. Damals reichte noch Erdoğans Drohung, um das zu verhindern. Der Opposition war das Risiko zu hoch.
Nun, seit Beginn dieses Jahres, da sich İmamoğlu offiziell um die Kandidatur bewarb, mehrten sich die juristischen Verfahren gegen ihn – so lange, bis eines davon zur Festnahme führte. Der Anwalt des Staatsanwalts, den der Oppositionelle angegriffen haben soll, erklärte am Freitag vor Gericht, wie das passiert sein soll. „Mein Mandant ist ein Mitarbeiter der Terrorismusbekämpfung“, sagte er. „Ekrem İmamoğlu hat ihn mit den Worten ‚Seht her, Generalstaatsanwalt’ angegriffen.“ Fraglich, ob das außerhalb der Mauern der türkischen Justiz als Angriff durchgeht.
Der Angeklagte hatte sich auf den Gerichtstermin erkennbar vorbereitet. Er habe „noch nie jemanden bedroht“, sagte İmamoğlu. „Ein Friedensstifter“ sei er. „Ich bin nicht einmal neidisch, nur in Ankara ist jemand neidisch auf mich.“ Das ist wohl sein Satz, der von dieser Anhörung bleiben soll. Er klagte, dass das staatliche Fernsehen TRT den Termin nicht übertrug, und kritisierte in scharfen Worten die vielen Festnahmen von jungen Demonstranten. „Lassen Sie die Studenten frei“, forderte İmamoğlu, er sehe in allen seine Kinder. „Es ist eine Schande, eine Sünde.“
Tatsächlich hatte ein anderes Istanbuler Gericht am Donnerstag, also am Abend zuvor, die Freilassung von etwa 100 Menschen erwirkt, die wegen ihrer Teilnahme an den Demos für İmamoğlu einsaßen. Vor dem Gefängnis von Silivri trafen sie auf ihre dort wartenden Familien. Über 200 Protestierende, die meisten von ihnen Studentinnen und Studenten, bleiben aber weiterhin in Haft.
Im Gerichtssaal passierte am Freitag nicht viel, der nächste Termin ist erst für Juni vorgesehen. Auf den türkischen Straßen dagegen soll es wieder laut werden. Am Wochenende plant die Opposition eine Großkundgebung in Samsun, einer Stadt am Schwarzen Meer. In Istanbul und anderen Städten demonstrieren auch wieder mehr Studenten, außerdem geht der Boykott gegen regierungsnahe Unternehmen weiter, den die Opposition angestoßen hat.