Türkei und der Völkermord:Im langen Schatten des Todes

Gedenkveranstaltung - Lichterzug der Vergessenen

Im April 2015 demonstrierte der "Lichterzug der Vergessenen" vor dem Brandenburger Tor in Berlin anlässlich des 100. Jahrestages des Beginns der Massaker an den Armeniern im Osmanischen Reich.

(Foto: dpa)

Noch immer will Ankara offiziell den Völkermord an den Armeniern nicht anerkennen. Das mag auch mit Entschädigungsforderungen zu tun haben. Aber eben nicht nur.

Von Christiane Schlötzer

Aram Güreghian aus der Stadt Sebastia, dem heutigen türkischen Sivas, erzählt: "Die Einzige, die wir begraben konnten, war meine kleine Schwester Zevart. Wir haben sie im Sand begraben. Überall um uns herum war ja Sand." Schuschanig Gambarian aus einem Dorf bei Sebastia sagt: "In Raqqa haben wir Leichen über Leichen gesehen. Hunderte von Leichen in armenischen Kleidern. Die Kleider waren durch die Sonne ganz verblasst."

Im syrischen Raqqa hat nun der IS das Sagen, der "Islamische Staat". Nur: Hier berichten Zeugen nicht vom Horror dieser Tage. Vor 100 Jahren war Raqqa schon einmal Todeszone, ebenso wie die syrische Wüstenstadt Deir ez-Zor, die noch zum Osmanischen Reich gehörte. 1915/16 wurden dorthin die armenischen Todestrecks geführt. Hunderttausende starben auf dem Weg an Erschöpfung, durch die Schergen des Istanbuler Regimes der Jungtürken, das mit quasi diktatorischen Mitteln regierte. Man trieb die Menschen in den Städten und Dörfern Anatoliens zusammen, nahm ihnen Besitz und Heimat.

Vielvölkerstaat

Das Osmanische Reich war, bevor es sich vom Bazillus des Nationalismus anstecken ließ, ein Vielvölkerstaat, in dem christliche Minderheiten wie orthodoxe Griechen, Aramäer und Armenier ihren angestammten Platz hatten. Der Erste Weltkrieg brachte den Rest der alten Ordnung aus den Fugen. Schon im 19. Jahrhundert hatten osmanische Reformer, zu denen auch die Bewegung der Jungtürken gehörte, den Begriff Vatan (Vaterland) für sich entdeckt, in Anlehnung an das französische patrie. Der ließ sich auf die Frage "nach der Identität der künftigen Gesellschaft" zuspitzen, schreibt der Bochumer Genozid-Forscher Mihran Dabag. Für ihn ist klar: Der Vertreibung und Vernichtung der Armenier (und anderer christlicher Minderheiten) lag "ein völkisch-kulturalistischer Traum" zugrunde.

Offizielle türkische Historiker bestreiten dagegen bis heute, dass es eine gezielte Vernichtung der Armenier, also einen Völkermord, gab. Sie verweisen auf die "subversive Tätigkeit" armenischer Aktivisten, die sich mit dem russischen Kriegsgegner verbündet hatten. Es gab solche Kollaborationen, aber dass sich damit Massenmorde an Wehrlosen, an Frauen und Kindern - es soll 800 000 bis 1,5 Millionen Tote gegeben haben - rechtfertigen ließen, das behaupten selbst von Ankara beauftragte Geschichtsschreiber nicht mehr. So zitieren sie gern aus einem Regierungserlass vom Mai 1915: "Während der Abfahrt und der Reise der in den genannten Städten und Dörfern wohnhaften und umzusiedelnden Armenier nach ihren neuen Siedlungsorten muss ihr Wohlbefinden sichergestellt und ihr Leben sowie ihr Hab und Gut geschützt werden." Das soll wohl heißen, die "kriegsbedingten" Umsiedlungen seien irgendwie aus dem Ruder gelaufen.

Überlebende erzählen

Überlebende schilderten es anders. Mihran Dabag hat solche Aussagen gesammelt, als es noch möglich war (und sie 2015 veröffentlicht: "Verlust und Vermächtnis", im Ferdinand Schöningh Verlag erschienen). Der schon zitierte Schuschanig Gambarian erinnerte sich: "Auf diesem Feld bei Malatya haben sie die Kinder versammelt. Dann haben sie die Mädchen und die Jungen getrennt ... einige von den älteren Jungen, die vielleicht 14 oder 15 Jahre alt waren, haben sie dort erschossen, direkt an dem Ort." Auch deutsche Missionare und Diplomaten - die Osmanen und das Kaiserreich waren Verbündete - wurden zu Augenzeugen, schrieben empört nach Berlin oder schwiegen, weil Protest unerwünscht war. Von Reichskanzler Bethmann Hollweg ist das Zitat überliefert: "Unser einziges Ziel ist es, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten."

Seit 2005 sind die "Dokumente aus dem Politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amtes" veröffentlicht. Die "unrühmliche Rolle das Deutschen Reiches" wird auch in dem Antrag von CDU/CSU, SPD und Grünen unterstrichen, über den am Donnerstag abgestimmt wird. Es ist nicht die erste "Armenier-Resolution" des Bundestags, aber erstmals wird das Geschehen als Völkermord gebrandmarkt. Und: Die Beziehungen zwischen Berlin und Ankara sind gerade eher belastet. Das gibt dem Berliner Beschluss neben der historischen eine tagespolitische Note. Präsident Erdoğan und Premier Yıldırım haben schon protestiert, sie sprechen von "haltlosen, ungerechten politischen Urteilen", dies sähen "die Türkei und Millionen Türken in Deutschland mit Sorge".

Das klingt nicht so, als könnte sich der Wunsch der Abgeordneten bald erfüllen, mit "zur Versöhnung zwischen Türken und Armeniern beizutragen", wie es schon 2005 in einem Bundestagsbeschluss hieß, auf den jetzt noch einmal ausdrücklich verwiesen wird. Seit 2005 ist viel passiert im türkisch-armenischen Verhältnis. 2009 unterzeichneten die Außenminister beider Länder in Zürich ein historisches Annäherungs-Abkommen, in Anwesenheit von Hillary Clinton, die Schweiz hatte vermittelt. Die Öffnung der geschlossenen Landgrenze schien nah zu sein. Dann reiste Erdoğan nach Aserbaidschan - zu Armeniens Erzfeind. Die beiden Nachbarn sind seit den Neunzigerjahren tief in einen Konflikt um Bergkarabach verstrickt. Die Regierung in Baku war wütend, Erdoğan knickte ein vor dem gas- und ölreichen Bündnispartner. Das Abkommen wurde nie ratifiziert.

Blockaden überwunden

Es gibt junge Armenier und Türken, die haben solche Blockaden längst überwunden. Sie machen gemeinsam Filme, Ausstellungen, Konzerte, treffen sich in Istanbul, auch an den Armenier-Gedenktagen. Warum bleibt die Politik da so starr? Warum erzählen türkische Schulbücher immer noch, Armenier hätten Türken getötet (das gab es auch), aber kaum etwas über Verbrechen der Osmanen? In Ankara wird von Analysten oft auf mögliche armenische Entschädigungsansprüche verwiesen, sollte man die Massenmorde als Genozid in die Nähe des Holocaust rücken. Finanzforderungen gibt es zwar immer wieder mal, Günter Seufert, Türkei-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, hält das Argument aber für "vorgeschoben". Seufert sagt: "Es geht aus türkischer Sicht immer um den Staat, der für eine solche Schmach einfach nicht verantwortlich sein kann." Wobei Konservative wie Erdoğan sich eher Sorgen ums Ansehen der Osmanen machen, und die säkulare Opposition vor allem keinen Schatten auf die Jungtürken fallen lassen will, als Vorläufer des Kemalismus.

Was bringt da die Berliner Resolution? Für die innere Befindlichkeit der Türkei wohl nichts, und auch im armenisch-türkischen Verhältnis zeichnet sich kein Tauwetter ab.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: