Türkei:"Ich persönlich achte nicht darauf, was Hans und George dazu sagen"

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  • In der Türkei ist mit verschiedenen Feierlichkeiten an den gescheiterten Putschversuch vor einem Jahr erinnert worden.
  • Präsident Erdoğan sprach sich in mehreren Reden erneut für die Wiedereinführung der Todesstrafe in seinem Land aus und kündigte ein hartes Vorgehen gegen die Putschisten an.
  • Die Opposition warf der Regierung bei einer Sondersitzung schwere Versäumnisse bei der Aufarbeitung der Ereignisse vor.

Ein Jahr nach dem gescheiterten Militärputsch hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan jegliche Nachsicht im Umgang mit den Verantwortlichen ausgeschlossen: "Wir werden diesen Verrätern den Kopf abreißen", sagte er am Samstagabend auf einer Kundgebung vor Tausenden Anhängern in Istanbul. Außerdem schlug er in abfälliger Weise vor, die Putschisten vor Gericht in orangefarbene Overalls stecken zu lassen - nach dem Vorbild der berüchtigten Häftlingsuniformen im US-Gefangenenlager Guantanamo. "Herausgeputzt vor Gericht zu erscheinen, so etwas kann es nicht geben."

Bei einer Ansprache vor dem Parlament in Ankara bekräftigte er am Sonntagmorgen erneut seine Bereitschaft, die Todesstrafe wieder einzuführen. Dafür ist eine Verfassungsänderung notwendig. Wenn die Vorlage aus dem Parlament zu ihm komme, werde er sie ohne Zögern bewilligen, sagte Erdoğan. "Und ich persönlich achte nicht darauf, was Hans und George dazu sagen. Ich achte darauf, was Ahmet, Mehmet, Hasan, Hüseyin, Ayse, Fatma und Hatice sagen."

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:Erdoğan schickt Türken Sprachnachricht aufs Handy

Zum Jahrestag des Putschversuchs schallt Kunden der wichtigsten Mobilfunkanbieter die Stimme des Präsidenten entgegen. Ein Oppositioneller schreibt: "Jetzt schaltet er sich sogar in unsere Telefone ein."

Mit "Hans und George" spielt der türkische Präsident auf EU-Staaten wie Deutschland und Großbritannien an. Die EU hat deutlich gemacht, dass eine Wiedereinführung der Todesstrafe das Ende des Beitrittsprozesses bedeuten würde. Erdoğan übte in der dritten Ansprache nach dem Morgengebet in Ankara scharfe Kritik an der EU, der er vorwarf, die Türkei seit 54 Jahren vor der Türe stehen zu lassen. "Immer noch machen sie sich über uns lustig", sagte Erdogan. "Die Versprechen, die sie gegeben haben, halten sie nicht."

Parlamentspräsident Ismail Kahraman nannte Gülen einen "geisteskranken Schizophrenen" und sagte: "Volk, Fahne, Koran, Glaube, Gebetsruf, Freiheit, Unabhängigkeit sind unsere Ehre, unsere Würde. Denjenigen, die unsere Werte angreifen, brechen wir die Hände, schneiden ihnen die Zunge ab und vernichten ihr Leben." Kahraman gehört der Regierungspartei AKP an, der Erdogan vorsteht.

Viele Zuhörer bei der Rede in Istanbul skandierten Parolen für die Todesstrafe; manche trugen Schlingen mit sich, um ihr Anliegen zu illustrieren. "Wir sind Tayyips Soldaten!", skandierte die Menge in Sprechchören.

Scharfe Kritik von der Opposition

Zuvor hatte der türkische Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu die Regierung scharf kritisiert. "Die Justiz wurde zerstört", sagte er bei einer Sondersitzung des Parlaments in Ankara am Samstag. Kılıçdaroğlu warf der Regierung "Behinderungen" bei der Untersuchung der Putschnacht vor. Er forderte, diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die die Putschisten und Unterstützer "an den empfindlichsten Stellen des Staates" platziert hätten.

Mit Blick auf den seit einem Jahr währenden Notstand in der Türkei sagte er: "Über das vergangene Jahr hinweg haben sich alle Rechtsabläufe immer weiter vom gesetzlichen Rahmen entfernt." Statt einer schnellen Normalisierung habe die Staatsführung einen bleibenden Ausnahmezustand erschaffen und immer wieder verlängert. Erdoğan hatte zuvor angekündigt, den Ausnahmezustand in der kommende Woche ein viertes Mal zu verlängern.

Der stellvertretende Chef der pro-kurdischen Oppositionspartei HDP, Ahmet Yıldırım, sagte in der Sitzung, die Regierung sei nach dem Umsturzversuch gegen Menschen und Institutionen vorgegangen, die gegen einen Putsch gewesen seien. Auch Abgeordnete der Volkspartei befinden sich derzeit in Haft. Ministerpräsident Binali Yildirim dankte den Anhängern der Regierung für ihren Einsatz gegen die Putschisten.

Türkische Regierung macht für Putsch Gülen-Bewegung verantwortlich

Am Abend des 15. Juli 2016 hatten Soldaten versucht, die Macht in der Türkei an sich zu reißen. Sie besetzten Straßen und Brücken und bombardierten das Parlament und den Präsidentenpalast, doch der Umsturzversuch scheiterte auch am Widerstand der Bevölkerung. Mehr als 200 Menschen starben, etwa 2000 wurden verletzt. Auch 35 Putschisten kamen ums Leben. Die Türkei macht den in den USA lebenden Geistlichen Fethullah Gülen für den Putsch verantwortlich. Der streitet das ab.

Nach dem versuchten Staatsstreich hatte die Türkei den Notstand ausgerufen, der seit einem Jahr gilt. Das erlaubt der Regierung, mit Dekreten zu regieren. Etwa 150 000 Staatsangestellte wurden entlassen oder suspendiert; mehr als 50 000 Verdächtige sitzen in Untersuchungshaft. Betroffen sind neben Tausenden Soldaten, Polizisten, Staatsanwälten und Richtern auch kurdische Oppositionelle, kritische Journalisten und unabhängige Wissenschaftler. Erdoğan forderte die Bürger dazu auf, mutmaßliche Gülen-Anhänger den Sicherheitskräften zu melden. "Jeder soll sagen, was er weiß", sagte er. "Niemand soll sich davor scheuen, deren Namen zu nennen."

Erst am Freitagabend waren fast 7400 weitere Lehrer, Hochschulmitarbeiter, Militärbedienstete und Polizisten per Dekret suspendiert worden. Vor dem Jahrestag hatte Erdoğan Kritik an der Menschenrechtslage in seinem Land entschieden zurückgewiesen.

CHP sagte Teilnahme an nächtlicher Sitzung ab

Die CHP kritisierte, dass in einer geplanten nächtlichen Sondersitzung keine Reden der Oppositionsparteien vorgesehen seien und sagte ihre Teilnahme ab. Parteisprecher Bülent Tezcan warf der türkischen Führung vor, kurzfristig eine Änderung des Programms veranlasst zu haben, weil sie eine Rede von CHP-Chef Kılıçdaroğlu "fürchteten". Die HDP dagegen hatte von Anfang an einen Boykott der Sitzung angekündigt. Damit spricht Erdoğan nur vor seiner islamisch-konservativen Regierungspartei AKP und der ultranationalistischen Oppositionspartei MHP, deren Chef Devlet Bahçeli die Regierung schon länger unterstützt.

Seit Dienstag erinnert die Türkei in Gedenkfeierlichkeiten an den blutigen Putsch. Um genau 02.32 Uhr hielt der türkische Staatspräsident eine Ansprache. Zu exakt diesem Zeitpunkt hatten Putschisten vor einem Jahr das Parlament bombardiert.

© SZ.de/dpa/AFP/AP - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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