Süddeutsche Zeitung

Türkei:Haft gegen Mäzen Kavala verlängert

Lesezeit: 2 min

Ein Istanbuler Gericht übergeht das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und behält den Kulturmäzen Kavala in Haft. Dies löst heftige Kritik aus.

Von Christiane Schlötzer, Istanbul

Die Entscheidung eines Istanbuler Gerichts, die mehr als zweijährige Untersuchungshaft für den türkischen Kulturmäzen Osman Kavala erneut zu verlängern, hat in und außerhalb der Türkei heftige Kritik ausgelöst. Die Istanbuler Richter übergingen am Dienstag ein Urteil des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), das am 10. Dezember die sofortige Freilassung Kavalas verlangt hatte. Der türkische Oppositionsabgeordnete Utku Çakırözer sagte, die Weigerung, dem EGMR zu folgen, zeige "die Tiefe der Gesetzlosigkeit" in seinem Land. Eine Prozessbeobachterin von Amnesty International, Milena Buyum, twitterte, die Entscheidung sei "schändlich".

Sergey Lagodinsky, Vorsitzender der Türkei-Delegation im Europaparlament, der ebenfalls nach Istanbul gereist war, sagte, das Straßburger Urteil sei klar. "Es geht um die Freiheit eines Menschen. Bei diesem gewichtigen Grundrecht kann es keine Kompromisse geben." Der EGMR hatte in der 657 Seiten langen Anklage keine Belege für den Vorwurf gefunden, Kavala habe die regierungskritischen Gezi-Proteste vor mehr als sechs Jahren finanziert. Die Inhaftierung solle ihn und alle türkischen Menschenrechtsverteidiger zum Schweigen bringen, so der EGMR.

Womöglich ist auch der türkische Justizminister Abdülhamit Gül mit den Istanbuler Richtern nicht ganz einverstanden. Gül sagte nach Angaben der Zeitung Cumhuriyet bei einer Veranstaltung, bei der es um Menschenrechte ging, die Entscheidung des EGMR sei bereits ins Türkische übersetzt und stehe dem Istanbuler Gericht zur Verfügung. Nach der Verhandlung wurde berichtet, das Gericht habe sich auch darauf berufen, dass die Übersetzung fehle. Gül sagte, international gültige Menschenrechtsdokumente stünden über türkischen Gesetzen. Die Türkei ist als Mitglied des Europarats eigentlich verpflichtet, Urteile des EGMR umzusetzen.

Der große Gerichtssaal des Hochsicherheitsgefängnisses von Silivri, 70 Kilometer von Istanbul entfernt, war trotz des weihnachtlichen Termins gut gefüllt. Viele Unterstützer Kavalas waren gekommen, dazu Vertreter von Botschaften, auch des deutschen Generalkonsulats. Kavala selbst nannte die Anschuldigungen gegen ihn erneut "vollkommen haltlos". Nach der Verhandlung ließ er mitteilen: Die Entscheidung habe ihn "sehr überrascht", zumal auch die Zeugen vor Gericht "keinen Zusammenhang zwischen mir und den Gezi-Protesten hergestellt haben".

Zwei Polizisten hatten ausgesagt, ohne die Anklage zu stützen. Einer sagte, er sehe Kavala zum ersten Mal. Viele Zuschauer reagierten geschockt und bestürzt auf die Verlängerung der Haft für den 62-Jährigen, einige weinten. Eine Frau sagte: "Wir hatten noch einen Funken Hoffnung, jetzt haben wir sie verloren." Am 28. Januar soll der Prozess fortgesetzt werden. Seit Juni wird bereits verhandelt, immer mit großen Abständen. Neben Kavala sind auch 15 Akademiker, Schauspieler und Journalisten angeklagt. Sie sind alle auf freiem Fuß, einige sind nicht mehr in der Türkei.

Kavala stammt aus einer Familie, die einst mit Tabakhandel und Bergwerken reich wurde. Seit 2002 unterstützt er mit seiner Stiftung "Anadolu Kültür" Kulturprojekte im kurdischen Südosten der Türkei, ein armenisch-türkisches Jugendorchester, Ausstellungen, Filme, Literatur. Seine Stiftung war Partner des Goethe-Instituts. In der Anklage finden sich auch abgehörte Gespräche mit einem deutschen Diplomaten.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4736300
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 27.12.2019
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.