Süddeutsche Zeitung

Türkei:Gezi-Prozess wird neu aufgerollt

Dem Kunst-Mäzen Osman Kavala und weiteren 15 Personen wird in der Türkei vorgeworfen, die Proteste 2013 organisiert zu haben - mit dem Ziel, die Regierung zu stürzen. Der Prozess beginnt mit einer kleinen Sensation.

Von Tomas Avenarius, Istanbul

In Istanbul hat die Neuverhandlung des Gezi-Prozesses begonnen. Vor Gericht stehen neben dem seit mehr als drei Jahren ohne Urteil inhaftierten Kulturförderer Osman Kavala weitere 15 Personen. Den Angeklagten - Menschenrechtler, Kulturschaffende und Rechtsanwälte - wird vorgeworfen, sie hätten die türkische Regierung stürzen wollen. Deshalb hätten sie 2013 die drei Monate dauernden und weitgehend friedlichen Gezi-Proteste in Istanbul veranstaltet.

Der Vorwurf, dass Kavala federführend diese Kundgebungen organisiert und auch finanziert hat, wirkt auf Beobachter an den Haaren herbeigezogen. Die Proteste hatten im Mai 2013 begonnen, weil die Regierung den kleinen Gezi-Park am Taksim-Platz im Zentrum von Istanbul hatte roden wollen, um dort ein Einkaufszentrum zu errichten. Wegen des brutalen Vorgehens der Polizei wurde aus dem lokalen Protest eine landesweite Bewegung gegen den autoritären Regierungsstil des heutigen Staatschefs Recep Tayyip Erdoğan, der damals Premierminister war. Getragen wurde die Gezi-Bewegung von unterschiedlichen Gruppen der Zivilgesellschaft. Die Proteste, bei denen es mehrere Tote gab, wurden schließlich niedergeschlagen.

Während der Eröffnungssitzung am Freitag kam es zu einer kleinen Besonderheit: Der Vorsitzende Richter sprach sich für die Freilassung von Kavala aus der Untersuchungshaft aus. Seine beiden Mit-Richter lehnten dies jedoch per Mehrheitsentscheidung ab. Die Freilassung Kavalas wird von türkischen und internationalen Menschenrechtlern sowie vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gefordert. Als Mitglied des Europarats muss die Türkei Urteile des Gerichts umsetzen. Sie tut es aber nicht. Kritiker sprechen beim Fall Kavala vom Ende jeglicher Rechtsstaatlichkeit in der Türkei.

Der neue Gezi-Prozess erregt in der Türkei und international Aufsehen: Sowohl die Angeklagten als auch Menschenrechtler und Oppositionelle nennen den Prozess politisch motiviert. Auch internationale Beobachter betrachten das Verfahren als politisches Verfahren.

Freigesprochen und sofort wieder inhaftiert

Die Neuauflage des Gezi-Verfahrens wirkt in mehrfacher Hinsicht fragwürdig: Kavala und weitere Angeklagte waren im Februar 2020 in einem ersten Prozess freigesprochen worden. Ein Berufungsgericht hatte dieses Urteil aber aufgehoben; der Fall müsse neu verhandelt werden. Verhandelt werden in dem Verfahren laut Deutscher Presse-Agentur zudem die Fälle von mehreren Angeklagten, die ins Ausland geflohen sind. Darunter ist der Journalist Can Dündar, der in Deutschland lebt.

Kavala selbst ist seit November 2017 inhaftiert. Er wurde nach dem Freispruch im ersten Gezi-Verfahren im Februar 2020 wegen neuen Vorwürfen noch am selben Tag erneut inhaftiert. Diesmal wurden ihm eine Beteiligung am Putschversuch im Juli 2016 und politische Spionage für ausländische Mächte vorgeworfen. Dieses Putsch- und Spionage-Verfahren ist nun auf juristisch fragwürdige Weise mit dem neu aufgerollten Gezi-Verfahren zusammengelegt worden. Auch dies wurde von Anwälten und Beobachtern kritisiert.

Kavala selbst beurteilt den neuen Prozess gegen sich und seine Mitangeklagten so: "Uns wird vorgeworfen, wir hätten die Regierung stürzen wollen. Dafür gibt es keinerlei Beweise." Kavalas Anwalt Köksal Bayraktar wies darauf hin, wie lange sein 63-jähriger Mandant schon ohne Gerichtsurteil in Haft gehalten werde: "Er ist nicht nur physisch, sondern auch seelisch erschöpft, er ist krank. Wie lange soll dieser Mensch noch in Einzelhaft gezwungen werden?"

Deutlich wurden auch Vertreter der türkischen Oppositionsparteien. Ali Şeker, Abgeordneter der CHP, sagte: "Wir sind Zeugen eines Prozesses, der als Schande in die Geschichte der türkischen Justiz eingehen wird." Ähnlich äußerte sich die HDP-Abgeordnete Züleyha Gülüm: "Dieser Prozess zeigt, dass es in der Türkei keine Gerechtigkeit gibt: Er wird auf Anordnung der Regierung fortgeführt."

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