Süddeutsche Zeitung

Türkei:Neuer Gezi-Prozess beginnt

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Der türkische Kulturmäzen Osman Kavala sitzt seit vier Jahren ohne Urteil in Untersuchungshaft. Nun wird erneut gegen ihn und 51 Unterstützer der Gezi-Proteste verhandelt. Für die Türkei kann das politisch gefährlich werden.

Von Tomas Avenarius und Christiane Schlötzer, Istanbul

Bei der Neuaufnahme des Prozesses wegen der Gezi-Proteste hat ein türkisches Gericht die Freilassung des angeklagten Kulturmäzens Osman Kavala abgelehnt. Das Verfahren, in dem den mehr als vier Dutzend Angeklagten ein Umsturzversuch gegen die türkische Regierung und die türkische Verfassungsordnung zum Vorwurf gemacht wird, wird seit Freitag neu aufgerollt. Das hoch politisierte Verfahren ist ebenso kompliziert wie umstritten: Vor Gericht stehen insgesamt 52 Angeklagte: Gegen einen Teil von ihnen wird schon seit Jahren verhandelt. Unter ihnen sind der Kulturmäzen Kavala und der im deutschen Exil lebende Journalist Can Dündar.

Gleichzeitig ist das Verfahren ein neuer Prozess: Angeklagt werden darin erneut eine Gruppe von Anhängern des Istanbuler Fußballklubs Beşiktaş. Diese hatten sich an die Seite der Gezi-Protestierer gestellt. Diese Fußballfans waren in einem früheren Prozess freigesprochen worden. Das Urteil wurde aber von einem höheren Gericht kassiert.

Das Gericht vertagte sich nun auf den 26. November. Es lehnte die Freilassung des ohne ein Gerichtsurteil seit gut vier Jahren in Haft gehaltenen Kavala wegen der angeblichen "Schwere der Schuld" ab. Dem Kulturförderer wird vorgeworfen, die Proteste im Jahr 2013 federführend organisiert zu haben. Es bestehe weiter "dringender Tatverdacht", so das Gericht.

Die Gezi-Proteste gegen die Politik des heutigen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan im Jahr 2013 gehören zu den einschneidendsten politischen Ereignissen in der jüngeren Geschichte der Türkei. Erdoğan, der damals noch Ministerpräsident war, hatte die breiten zivilgesellschaftlichen Demonstrationen gegen die Rodung eines kleinen Parks am Taksim-Platz in der Istanbuler Innenstadt niederschlagen lassen. Mehrere Menschen starben bei den am Ende landesweiten Protesten gegen den geplanten Bau eines Einkaufszentrums auf dem Gelände des Gezi-Parks.

Wie das Verfahren ausgeht ist vollkommen offen

Der Ausgang des umstrittenen Verfahrens ist mit der Vertagung von diesem Freitag weiter vollkommen offen. Die Anwälte hatten beantragt, die Zusammenlegung der beiden Verfahren in einem einzigen Gerichtsprozess wegen juristischer Unstimmigkeiten rückgängig zu machen. Als Strafverteidiger hätten sie erst aus den Medien von der Zusammenlegung erfahren, die Staatsanwaltschaft habe sie nicht darüber informiert.

Die Anwälte argumentierten bei Prozessbeginn, die beiden Verfahren hätten überhaupt nichts miteinander zu tun. Das Verfahren gegen Osman Kavala ziele auf "politische Rache". Der Vorsitzende Richter wies diese Anträge aber zurück. Der seit vier Jahren in Untersuchungshaft sitzende Kulturmäzen hat immer wieder seine Freilassung gefordert. Er wurde zudem ebenfalls bereits von einem türkischen Gericht freigesprochen; zuvor hatte der Europäische Menschenrechtsgerichtshof im Dezember 2019 geurteilt, dass Kavala umgehend aus der Haft entlassen werden müsse. Kavala kam damals aber trotz seines Freispruchs erst gar nicht frei: Stattdessen wurde umgehend ein neues Verfahren gegen ihn eröffnet und er blieb in U-Haft.

Von den Angeklagten waren bei dem neuen Prozess im Istanbuler Justizpalast nur einige anwesend. Kavala, der als einziger in Haft ist, sprach via Video direkt aus dem Gefängnis in Silivri. Er wies alle Vorwürfe zurück. "Ich habe niemanden Anweisungen gegeben", sagte er. Auch für die Spionage-Vorwürfe gegen ihn gebe es keinerlei Beweise. Die gesamte Anklage sei "gegenstandslos". Kavala schloß sein Statement mit den Worten: "Ich hoffe, dass so eine Anklageschrift in unserem Land nicht noch einmal vorbereitet wird, dass so etwas nie wieder stattfindet."

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte fordert Kavala freizulassen

Das Schicksal Kavalas ist ein Politikum. Während die türkische Zivilgesellschaft, internationale Menschenrechtsorganisationen und ausländische Regierungen seine Freilassung fordern, bestehen die türkische Regierung und die Justiz weiterhin darauf, dem Kulturmäzen als angeblichem Kopf und Initiator der Proteste den Prozess zu machen. Kavala habe den Umsturz der Regierung Erdoğan betrieben.

Kavalas Fall ist dadurch längst zu einer internationalen Frage geworden und kann für die Türkei politisch sehr gefährlich werden. Nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vom Dezember 2019 muss Kavala unverzüglich freigelassen werden. Die türkische Justiz ignoriert dieses Urteil aber. Als Entscheidungsfrist ist der 30. November festgelegt. Danach könnte der Europarat den Ausschluss der Türkei aus der internationalen Organisation betreiben. Die Türkei ist ein Gründungsmitglied des Europarats.

Dies würde mit der Suspendierung der Stimmrechte beginnen, könnte aber am Ende zum Ausschluss des Landes aus dem Europarat führen. Sollte dies eintreten, würde die Türkei damit einen ihrer letzten Anker in Europa verlieren: Die Beziehungen der Regierung Erdoğan zu fast allen Staaten Europas sind angespannt, der Prozess einer EU-Mitgliedschaft der Türkei ist tot, das Verhältnis Ankaras zur Nato als amerikanisch-europäischem Verteidigungsbündnis ist ebenfalls schwer belastet.

Auch Deutschland wiederholte die Kritik an der Türkei: Die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Bärbel Kofler, hatte am Donnerstag laut dpa gemeinsam mit der französischen Botschafterin für Menschenrechte, Delphine Borione, die jahrelange Inhaftierung des Kulturförderers Kavala kritisiert. Sie appellierten an Ankara, den "internationalen Verpflichtungen uneingeschränkt nachzukommen und die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der die sofortige Freilassung von Osman Kavala fordert, unverzüglich umzusetzen".

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