TürkeiErdoğans Kinderwunsch

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Nachwuchs als Mangelware: Auch in der Türkei ist die Geburtenrate stark gesunken.
Nachwuchs als Mangelware: Auch in der Türkei ist die Geburtenrate stark gesunken. (Foto: YVES HERMAN/REUTERS)

Der türkische Präsident will die kräftig gesunkene Geburtenrate im Land erhöhen. Medizinisch nicht nötige Kaiserschnitte sind von sofort an gesetzlich verboten.

Von Christina Berndt, Raphael Geiger, München/Istanbul

Vor ein paar Tagen erklärte der türkische Präsident, warum es wichtig sei, Kinder zu bekommen. Es sei, sagte Recep Tayyip Erdoğan, „eine Frage des nationalen Überlebens“. In den nächsten Jahren werde es mit dem türkischen Bevölkerungswachstum vorbei sein, und dies, so Erdoğan, sei für das Land „eine größere Bedrohung als Krieg“.

Erdoğans Wunsch war es schon immer, dass die türkischen Frauen drei Kinder zur Welt bringen. Seine Türkei sollte jung sein und gerade auch dem alternden Europa gegenüber im demografischen Vorteil. In den ersten Jahren des Jahrhunderts, als seine islamisch-konservative AKP an die Macht kam, ging das noch auf: Die Geburtenrate pro Frau lag 2001 bei knapp 2,4. Inzwischen ist sie laut der Statistikbehörde Türkstat auf 1,5 Kinder gesunken.

Selbst Fußballspieler werben für natürliche Geburten

Viel zu wenig, damit die Bevölkerung stabil bleibt. Viel zu wenig auch aus Sicht des Präsidenten. Der hat deshalb das „Jahr der Familie“ ausgerufen. Dazu gehört, dass der türkische Staat den vielen Kaiserschnitten den Kampf ansagt. Kleinere Privatkliniken dürfen im Voraus geplante und medizinisch nicht nötige Kaiserschnitte von sofort an nicht mehr anbieten, die Regierung hat eine Kampagne für „die natürliche Geburt“ begonnen. Selbst die Spieler des Fußballvereins „Sivasspor“ brachten zu einem Spiel ein Banner für natürliche Geburten mit. Denn die, da sind sich die offenbar regierungstreuen Spieler und ihr Präsident einig, habe einen Vorteil: Man könne danach schneller wieder schwanger werden.

Erdoğans Vorstoß kommt zu einer politisch hoch aufgeladenen Zeit im Land. Seit einem Monat sitzt Ekrem İmamoğlu in Untersuchungshaft, der abgesetzte Oberbürgermeister von Istanbul und Präsidentschaftskandidat der Opposition für die nächsten Wahlen. Seither erlebt die Türkei die größten Proteste seit vielen Jahren. Dass darunter viele junge Frauen sind, die das Gesetz gegen Kaiserschnitte ablehnen, könnte die Proteste weiter anfeuern.

Während sich die einen fragen, warum Erdoğan das Gesetz gerade jetzt durchs Parlament hat bringen lassen, vermuten andere dahinter Kalkül: Der Präsident wolle, dass das Land nicht mehr bloß über İmamoğlu rede. Ein neues Thema musste her.

Fragt man Mediziner, geben sie Erdoğans Argumentation grundsätzlich recht: Es stimme, dass Frauen empfohlen werde, nach einer Kaiserschnittgeburt länger mit einer neuen Schwangerschaft zu warten. Frauen, die natürlich gebären, können also schneller mehr Kinder zur Welt bringen. Das sei „per se nicht von der Hand zu weisen“, sagt Sven Kehl, Leiter der Geburtshilfe an der Frauenklinik der Universität München. „Nach einem Kaiserschnitt sollte zwölf, besser 18 Monate gewartet werden, nach einer natürlichen Geburt sind es nur sechs bis zwölf Monate.“ Denn wenn die Schnittnarbe noch nicht stabil verheilt ist, kann sie im Verlauf der neuen Schwangerschaft aufreißen.

Mediziner geben Erdoğan im Grundsatz recht

In der Türkei soll zuletzt mehr als jedes zweite Kind per Kaiserschnitt geboren worden sein. Hiesige Ärzte empfehlen ihn nur als Notlösung. „Man braucht schon einen guten Grund, es anders zu machen, als es von der Natur vorgegeben ist“, sagt Kehl. Eine natürliche Geburt hat für das Kind viele Vorteile: Weil im Geburtskanal das Fruchtwasser aus den Lungen gepresst wird, kann das Neugeborene besser atmen. Zudem wird es mit Bakterien versorgt, die es vor Allergien schützen. Kehl betont aber auch: „Wir können uns glücklich schätzen, dass wir den Kaiserschnitt haben.“ In Notsituationen kann er das Leben von Mutter und Kind retten.

Geplante Kaiserschnitte, wie sie Erdoğan nun verbieten will, sollten nach Meinung deutscher Fachleute die Ausnahme sein. Etwa dann, wenn der Mutterkuchen vor dem Ausgang liegt und dem Kind den Weg auf die Welt versperrt, wenn das Kind quer liegt oder extrem groß ist. Denn wenn ein Baby nach Plan per Kaiserschnitt geholt werden soll, muss die Schwangerschaft zwangsläufig verkürzt werden. Das Baby profitiert aber von jedem Tag im Bauch der Mutter.

Nicht nur in der Türkei, auch in den USA und der EU wird die Sectio nach Plan dennoch oftmals als Lifestyle-Weg gepriesen, der Frauen die Mühen und Folgen der Geburt erspare. Denn geplante Kaiserschnitte lassen sich im Gegensatz zum unkalkulierbaren Beginn natürlich einsetzender Wehen bestens in Klinikpläne einarbeiten. In der Türkei sind die Kaiserschnittraten auch wegen der starken Privatisierung des Gesundheitswesens hoch.

Aus medizinischer Sicht mag Erdoğans Vorstoß also eine gewisse Berechtigung haben. Als politische Maßnahme könnte er tiefere Narben hinterlassen. Gökçe Gökçen, Vizevorsitzende der oppositionellen CHP, İmamoğlus Partei, schrieb auf X, Männer wie die Fußballspieler von Sivasspor sollten „die Finger von den Körpern der Frauen“ lassen. Viele türkische Frauen sehen es als Eingriff in ihre Privatsphäre an, dass der Staat ihnen vorschreibt, wie sie gebären sollen.

Das berührt den Kern dessen, was die Menschen auf die Straßen treibt: Sie fühlen sich von einem Präsidenten bevormundet und ihrer Rechte beraubt, der aus ihrer Sicht den Kontakt zur Realität verloren hat. Denn dass die Geburtenrate so schnell zurückgegangen ist, dürfte weniger am westlichen Einfluss oder den sozialen Medien liegen, wie Erdoğan jüngst in einer Rede vermutete. Vielmehr ist das Leben in der Türkei so teuer geworden, dass sich viele die Gründung einer Familie nicht mehr leisten können. Da die Lira seit İmamoğlus Verhaftung im Wert nachgibt, dürfte bald auch die Inflation wieder steigen.

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