Türkei:Freiheit für den Rivalen

Präsident Erdoğan nennt ihn einen Terroristen. Doch ein Gericht in Ankara hat die Freilassung des Oppositionellen Demirtaş angeordnet.

Von Christiane Schlötzer, Istanbul

Selahattin Demirtas

Für seine Bewunderer ist Selahattin Demirtaş der „kurdische Obama“. Seit fast drei Jahren sitzt der frühere Chef der linken prokurdischen Partei HDP im Gefängnis.

(Foto: dpa)

Präsident Recep Tayyip Erdoğan nennt ihn einen "Terroristen". Für seine Bewunderer ist Selahattin Demirtaş der "kurdische Obama". Seit fast drei Jahren sitzt der frühere Chef der linken prokurdischen Partei HDP im Gefängnis. Nun hat ein Strafgericht in Ankara seine Freilassung angeordnet. Die Entscheidung fiel einstimmig, im Hauptsacheverfahren, in dem es um den Terrorvorwurf ging.

Die Staatsanwaltschaft hatte 142 Jahre Haft gefordert, sie legte am Dienstag Berufung ein. Demirtaş dürfte ohnehin nicht sofort freikommen, denn er wurde in einem anderen Verfahren bereits zu 56 Monaten Haft verurteilt, von denen er 34 verbüßt hat. Üblich sei eine Freilassung nach zwei Dritteln der Strafzeit, twitterte der bekannte Kommentator Ahmet Şık, der seit 2018 selbst HDP-Abgeordneter ist. Şık nannte die Gerichtsentscheidung "so politisch" wie die Verhaftung von Demirtaş 2016. Demirtaş' Anwälte teilten mit, sie rechneten mit einer baldigen Freilassung ihres Mandanten auf Bewährung.

Die Türkei fügt sich mit der Gerichtsentscheidung einer Anordnung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg. Dies hatte bereits im vergangenen Jahr die sofortige Entlassung des Politikers aus der langen Untersuchungshaft verlangt. Für den 18. September hatte die Große Kammer, die höchste Instanz des Gerichtshof, eine erneute Befassung mit dem Fall angekündigt.

Die Anordnung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte wurde zunächst ignoriert

Erdoğan hatte nach der ersten Entscheidung des EGMR erklärt, er fühle sich an das Urteil nicht gebunden. Als Mitglied des Europarats ist die Türkei jedoch verpflichtet, EGMR-Urteile umzusetzen. Das Land riskiere den Ausschluss aus der Organisation, wenn sie die Straßburger Anweisungen weiterhin ignoriere, wurde Ankara aus Kreisen des Europarats gewarnt.

Demirtaş war bei der Präsidentschaftswahl 2014 erstmals als damals noch weitgehend unbekannter Herausforderer von Erdoğan angetreten. Auf Anhieb holte er vier Millionen Stimmen, fast zehn Prozent. 2018 kandidierte er aus dem Gefängnis heraus erneut und bekam 8,4 Prozent. Demirtaş ist 46, ein guter Redner, ein Mann mit Charisma. Kommt er frei, dürfte er - neben dem neuen Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoğlu - zum zweiten politischen Rivalen von Erdoğan werden.

Bei den Kommunalwahlen in diesem Jahr hatte die HDP Imamoğlus säkulare Partei CHP, die größte Oppositionspartei, unterstützt. Dies verhalf der CHP in Istanbul zum Sieg. Die Erdoğan-Partei AKP verlor nach 25 Jahren erstmals die Bürgermeisterposten in der Wirtschaftsmetropole am Bosporus und auch in der Hauptstadt Ankara. Aus Rücksicht auf Nationalisten in den eigenen Reihen hatte es die CHP zwar nicht gewagt, mit der HDP ein formelles Bündnis einzugehen, aber die HDP hatte in den Großstädten im Westen auf eigene Bürgermeisterkandidaten verzichtet.

Im kurdisch dominierten Südosten war sie dagegen überall präsent und gewann die meisten Rathäuser. Diesen Triumph versucht Erdoğans Regierung der Kurdenpartei inzwischen wieder zu nehmen. Im August hat sie die erst Ende März neu gewählten Bürgermeister der drei Großstädte Diyarbakır, Mardin und Van per Order von oben wieder abgesetzt und durch staatliche Verwalter ersetzt - bis zur nächsten Kommunalwahl im Jahr 2024. Die drei Städte haben zusammen gut dreieinhalb Millionen Einwohner.

Die HDP spricht von einem "Putsch" der Regierung, die Partei protestiert seitdem auf vielfältige Weise gegen die Entmachtung ihrer Bürgermeister und die Auflösung der Stadträte. In einem Brief an zahlreiche europäische Rathauschefs forderte sie zu Solidaritätsaktionen auf. Die Regierung wirft den abgesetzten Kommunalpolitikern Verbindungen zur militanten Kurdenorganisation PKK vor. Gerichtsbeschlüsse dazu gibt es nicht.

Zum Solidaritätsbesuch reiste in der vergangenen Woche bereits der Istanbuler Oberbürgermeister Imamoğlu an. In Diyarbakır zeigte er sich besorgt und sprach von einem Verstoß gegen Recht und Gesetz. Dafür wurde er jetzt von Innenminister Süleyman Soylu scharf kritisiert. Imamoğlu solle "seine Grenzen kennen", sonst werde man ihn in die Knie zwingen, sagte Soylu am Dienstag bei einer Veranstaltung in Bursa. Über Twitter schlossen sich AKP-Unterstützer an. Sie drohten damit, auch Imamoğlu könnte von der Regierung abgesetzt werden, sollte er etwa Demirtaş im Gefängnis besuchen. Bereits vor der Kommunalwahl im März hatte die Regierung im Südosten 94 kurdische Bürgermeister durch Staatskommissare ersetzt. 41 von ihnen wurden jetzt in erster Instanz wegen angeblicher Terrornähe verurteilt - zu insgesamt 237 Jahren, 237 Monaten und 171 Tagen. Auch dies wurde am Dienstag vom Innenministerium veröffentlicht.

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