Süddeutsche Zeitung

Türkei:Die Toleranz schwindet

Lesezeit: 4 min

Die Stimmung im Land wendet sich zunehmend gegen die Anwesenheit der vielen Flüchtlinge aus Syrien und Afghanistan. Das wird auch für Staatschef Erdoğan zum Problem.

Von Tomas Avenarius, Istanbul

Fremdenfeindlichkeit ist ein weltweites Phänomen, aber wie der Bürgermeister des türkischen Bolu die rassistische Welle reitet, das macht den Mann schon zu etwas ganz Besonderem. Tanju Özcan hat im Rat seiner Stadt und Provinz soeben durchgesetzt, dass "Ausländer", sprich Flüchtlinge, höhere Abgaben zahlen sollen als Einheimische. Zehnmal so viel für Wasser und andere kommunale Gebühren werden die Fremden in Zukunft in der Stadt Bolu und in der gleichnamigen Provinz auf den Tisch legen müssen. Das passt zum Credo des Brachial-Populisten Özcan, der immerhin studierter Jurist ist: "Einige werden von den Menschenrechten sprechen und mich einen Faschisten nennen. Aber das ist mir egal. Ich spreche für das Volk."

Für seine Es-gibt-zwei Klassen-von Menschen-Abgabe hatte Özcan wochenlang getrommelt. Wer Flüchtlingen Hilfe zahle, sie zur Schule schicke oder ihnen Gewerbescheine ausstelle, der halte sie doch nur auf ewig im Land. Also nein zu alledem. Özcan weiter: "Die Flüchtlinge werden so wieder verschwinden, wie sie gekommen sind."

Nicht einmal die - möglicherweise auch nur halbherzigen - Proteste aus seiner eigenen Partei, der sozialdemokratisch-nationalistisch ausgerichteten CHP, konnten Özcan zügeln. Und bei der Abstimmung im Rat stimmten die örtlichen CHP-Vertreter dann seinem Vorschlag auch zu. Die Opposition - in Bolu ist das die in der Gesamt-Türkei regierende AKP von Präsident Recep Tayyip Erdoğan - ließ er in der Abstimmungsdebatte erst gar nicht zu Wort kommen: "Seid ruhig!"

Nun ist Bolu, eine kleine Stadt in der gleichnamigen westanatolischen Provinz, nicht das Herz der Türkei. Aber der fremdenfeindliche Bürgermeister sagt eigentlich nur laut, was viele Türken angesichts anhaltender Wirtschaftskrise, steigender Inflation, Währungsverfall und der sozialen Folgen der Corona-Epidemie denken und inzwischen auch sagen: Es sind zu viele Flüchtlinge im Land.

Erdoğans Gegner brauchen ein griffiges Thema

Das wiederum klingt in seiner populistischen Verkürzung nach einem verlockenden Thema für die Opposition rund um die CHP. Die wachsende Fremdenfeindlichkeit bedeutet zugleich Kritik an Staatschef Erdoğan. Dessen Gegner brauchen ein griffiges Thema. Denn dem seit fast 20 Jahren regierenden starken Mann mit seinem Selfmade-Mix aus islamistischer und nationalistischer Politik haben seine Gegner bisher erstaunlich wenig entgegensetzen können.

Das könnte nun angesichts der wachsenden Fremdenfeindlichkeit in der Türkei auf unangenehme Art anders werden. Erdoğan hat in den Augen seiner Kritiker den Zuzug von Migranten aus dem syrischen Bürgerkrieg durch seine Politik regelrecht befeuert. Er hatte sich 2011 offen auf die Seite der Aufständischen im Nachbarland geschlagen. Er hatte islamistischen Rebellengruppen Waffen geliefert und sich später mit Feldzügen der türkischen Armee im türkisch-syrischen Grenzgebiet und der Errichtung von "Sicherheitszonen" militärisch in den Konflikt eingemischt. Zudem hatte er die Grenze für die "syrischen Brüder und Schwestern" lange offen gehalten.

In der Türkei leben inzwischen schon mehr als 3,5 Millionen Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem benachbarten Syrien. Hinzu kommen Schätzungen zufolge eine halbe Million Afghanen und noch einmal bis zu eineinhalb Millionen andere illegale Einwanderer und Saisonarbeiter aus anderen Staaten.

Vor allem die meisten Syrer haben sich zwar vergleichsweise gut integriert und in der Türkei - oft unterbezahlte - Arbeit gefunden, sie sind zu einem für Unternehmer preiswerten Wirtschaftsfaktor geworden. Sie werden zudem durch das Flüchtlingsabkommen mit der Europäischen Union besser geschützt als die anderen Migranten. Doch in letzter Zeit schwindet die Toleranz der Türken. Wegen Wirtschaftskrise und Corona-Pandemie können sich viele Türken ökonomisch selbst kaum noch über Wasser halten. Der Weltbank zufolge sind zehn der 85 Millionen Türken von absoluter Armut betroffen.

Der Abzug der US-Truppen treibt die Menschen aus Afghanistan

Und nun steigt auch noch die Zahl der afghanischen Migranten und Kriegsflüchtlinge in den letzten Wochen und Monaten drastisch an. Der überraschend schnelle Abzug der US- und Nato-Truppen und die raschen Geländegewinne der Taliban treiben die Menschen aus ihrem Heimatland. Mittlerweile sollen täglich zwischen 500 und 2000 Menschen in die Türkei kommen. Die meisten passieren illegal die iranisch-türkische Grenze im Osten.

Die anfängliche Sympathie für die Syrer schlägt langsam in offene Ablehnung um. Viele Türken sagen, die Syrer nähmen ihnen Jobs und Wohnraum weg. In Städten wie Istanbul gehören zum Stadtbild inzwischen syrische Flüchtlinge und ihre Kinder, die bettelnd durch die Straßen ziehen und den Müll nach Essbarem durchsuchen.

Der erneute Zustrom von Afghanen wird in den Medien und von der Opposition bereits stärker thematisiert. Die türkische Seite reagierte daher gereizt auf Berichte, wonach Washington diejenigen Afghanen, die für die US-Streitkräfte gearbeitet hatten, nur über Drittstaaten in die Vereinigten Staaten holen will. Visa für den Umzug in die USA würden demnach nicht direkt, sondern erst nach einer mindestens einjährigen Zwischenstation in Drittländern erteilt: So lange brauchen die US-Behörden offenbar für die Bearbeitung der Visa-Anfragen von Betroffenen und ihren Familien. Zudem sollen die Ex-Mitarbeiter der Streitkräfte auf eigene Faust in das Drittland kommen. Naheliegend ist für Afghanen dann die Türkei.

Das bedeutet in der Realität, dass die meisten über die grüne Grenze fliehen werden. Eine Sprecherin des Außenministeriums in Ankara nannte das vorgeschlagene US-Verfahren "verantwortungslos", denn es würde die Flüchtlingskrise anheizen: "Es ist inakzeptabel, die Türkei für solche Lösungen zu vereinnahmen, ohne türkische Zustimmung." Die Türkei beherberge jetzt schon die höchste Zahl an Flüchtlingen weltweit und "hat nicht die Kapazität, eine neue Flüchtlingswelle aufzufangen, und das auch noch zum Nutzen eines Drittlandes".

Ankara soll die Verantwortung für den Flughafen Kabul übernehmen

Diese Gereiztheit hat Gründe: Die Regierung weiß, dass das Thema Afghanistan für Erdoğan zum Problem werden könnte. Auf Bitten von US-Präsident Joe Biden soll Ankara demnächst die Verantwortung für den Flughafen Kabul übernehmen. Erdoğan hat dies mehr oder weniger bindend bereits zugesagt. Er versucht so in Washington Boden wieder gutzumachen, den er durch seine Liebäugelei mit Russland und seine militarisierte Außenpolitik in Nahost und im östlichen Mittelmeer verloren hat.

Biden meint, nach dem Abzug der US-Soldaten könne Washington die im Stich gelassene afghanische Regierung am Leben erhalten, wenn der Flughafen offen bleibt für militärische, wirtschaftliche und humanitäre Hilfe. Doch je näher die Taliban vorrücken, desto mehr könnte die Türkei als letzte im Land verbleibende Macht der ehemaligen Nato-Mission auch für neue Flüchtlingsströme verantwortlich gemacht werden.

Wenn es richtig schlecht läuft für Erdoğan mit seinem politischen Projekt am Flughafen Kabul, könnte die inländische Opposition ihm irgendwann gleich zwei Dinge anlasten: sterbende türkische Soldaten in Afghanistan und riesige Flüchtlingsströme aus dem Land am Hindukusch.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5373153
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.