Vor dem Besuch von Kanzlerin Angela Merkel in Ankara an diesem Donnerstag wird deutlich, welche Ausmaße die Verhaftungswelle und die Massenentlassungen in der Türkei ein gutes halbes Jahr nach dem Putschversuch angenommen haben. Nach Zahlen von Arbeitsminister Mehmet Müezzinoğlu haben die Behörden seit Juli fast 95 000 Staatsbedienstete entlassen. Insgesamt seien 125 485 Personen überprüft worden, ob sie Verbindungen zu dem in den USA lebenden Prediger Fethullah Gülen und seinem Netzwerk haben. Ankara macht ihn für den gescheiterten Umsturzversuch verantwortlich.
Etwa 40 000 Beschäftigte aus dem öffentlichen Dienst sitzen derzeit in Haft und warten auf einen Prozess, darunter viele Militärangehörige. Seit dem Putschversuch geht die Regierung verstärkt gegen Journalisten und Oppositionspolitiker vor, die sie beschuldigt, Anhänger der Terrororganisation PKK zu sein.
Am Dienstag sind zwei weitere Politiker der kurdischen Partei HDP verhaftet worden, darunter ihr Sprecher. Die beiden Vorsitzenden der HDP sind seit November im Gefängnis. Die Verhaftungswelle hat selbst die Vereinten Nationen erreicht. Einer ihrer Richter, Aydın Sefa Akay, ist ebenfalls in Haft. Der internationale Gerichtshof IRMTC hat die Türkei aufgefordert, ihn freizulassen und setzt eine Frist bis zum 14. Februar.
"Die Realität in der Türkei sind Massenverhaftungen, Verfolgung und ein Krieg gegen die eigene Bevölkerung im Südosten", sagte die Grünen-Politikerin und Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth. Merkel müsse bei ihrer Reise Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan klarmachen, dass "nur eine demokratische Türkei" einen Platz in Europa habe. "Sonst verspielt Angela Merkel ihre demokratische Glaubwürdigkeit in der Türkei und in Europa."
Merkels Reise in die Türkei fällt in eine schwierige Zeit. Zuletzt wurde bekannt, dass etwa 40 türkische Offiziere, die auf Nato-Stützpunkten stationiert waren, in Deutschland Asyl beantragt haben. Die Türkei warnte davor, ihnen Asyl zu gewähren.
Türkische Opposition kritisiert Merkel-Reise
Unzufrieden ist Ankara auch damit, wie Deutschland mit Anhängern der PKK in der Bundesrepublik umgeht. Mustafa Yeneroğlu, Abgeordneter der Regierungspartei AKP, sagte der SZ, sie könnten sich in "aller Freiheit" bewegen und Kämpfer für den "Terrorismus in der Türkei" rekrutieren. Man erwarte mehr als nur Solidaritätsbekundungen. Dennoch nannte er Merkels Besuch "ein wichtiges Signal".
Ihr Besuch fällt auch mitten in den türkischen Wahlkampf für ein Referendum über die künftigen Befugnisse des Staatspräsidenten. Erdoğan will per Verfassungsänderung ein Präsidialsystem einführen, das ihm einen weitreichenden Machtzuwachs sichern würde.
Der Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu, Chef der säkularen Partei CHP, hatte Merkels Reise als Wahlkampfhilfe für Erdoğan kritisiert. Die Kanzlerin plant ein Treffen mit ihm. Bei ihren Gesprächen mit Erdoğan und Premierminister Binali Yıldırım dürfte es um das Flüchtlingsabkommen mit der EU, den Syrienkonflikt und den Anti-Terror-Kampf gehen.