Türkei:Die EU darf vor Erdoğan nicht kuschen

Turkish President Recep Tayyip Erdogan addresses at the meeting of War Veterans and Martyr Relatives

Seit Monaten werden die Grundwerte der EU vom türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan infrage gestellt.

(Foto: imago/Depo Photos)

Freiheit, Demokratie, Gleichheit: Seit Monaten tritt der türkische Präsident diese EU-Werte mit Füßen. Doch nur wenn das Bündnis gegenüber Ankara Haltung zeigt, wird man es respektieren.

Kommentar von Daniel Brössler, Brüssel

Die Werte, auf die sich die Europäische Union gründet, sind Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit. Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union nennt überdies die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören.

Seit Monaten wird jeder, wirklich jeder, dieser Werte vom türkischen Präsidenten infrage gestellt. Dennoch verhandelt die EU noch immer mit der Türkei des Recep Tayyip Erdoğan über einen Beitritt. Die Frage, warum das so ist, führt tief hinein ins brüchige Gefüge einer verunsicherten und ängstlichen Gemeinschaft. Im Streit über das Schicksal der Beitrittsverhandlungen geht es nur vordergründig um ein Urteil über die Türkei. In Wahrheit ist die EU gezwungen, ein Urteil über sich selbst zu sprechen.

Die Lage in der Türkei ist schrecklich, aber - sofern es um den Respekt vor Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten geht - nicht schrecklich kompliziert. Erdoğan erwägt die Wiedereinführung der Todesstrafe. In großer Zahl lässt er Journalisten, Abgeordnete, Richter und Staatsanwälte verhaften. Mit Füßen tritt er insbesondere die Rechte der Kurden. Was Erdoğan als Antwort auf einen Putschversuch sieht, mündet in einer Säuberungswelle, die jeglichen Widerstand auf dem Weg zu totaler Präsidialherrschaft hinwegspülen soll. Vor einem Beitritt dieser Türkei müsste die EU Artikel 2 ihres Vertrags streichen. Eine Mischung aus schlechtem Gewissen, guten Absichten und verstörender Ohnmacht verhindert dennoch, dass die EU-Staaten der Fiktion von Beitrittsverhandlungen ein Ende bereiten. Bisher.

Das schlechte Gewissen rührt vom Wissen her, dass die EU die Aufnahme der Türkei kaum je ernsthaft betrieben hat, auch nicht, als in Ankara ein proeuropäischer Geist herrschte. Etliche Regierungen duldeten die Verhandlungen nur widerwillig. Eine der Chiffren war die "privilegierte Partnerschaft", für die Bundeskanzlerin Angela Merkel als CDU-Vorsitzende verantwortlich zeichnete. Die Türken jedenfalls mussten sich fragen, ob die Tür nach Europa wirklich offen stand.

So begründet das schlechte Gewissen sein mag, es ist ein schlechter Ratgeber. Selbst wenn die Europäer eine Mitverantwortung für das vorläufige Ende der Demokratie in der Türkei tragen sollten, werden sie durch neue Unehrlichkeit diese Demokratie nicht wieder herstellen können. Es ist oft von den Hoffnungen der verbliebenen Europa-Freunde in der Türkei die Rede und davon, dass Erdoğan genau dies wolle: dass die EU selbst alle Hoffnungen durch einen Abbruch der Verhandlungen zerstört. Welche Hoffnung aber bedient die EU, wenn sie schlicht ignoriert, dass die elementaren Voraussetzungen für Beitrittsverhandlungen nicht mehr gegeben sind? Ist die EU zu schwach, diese Wahrheit auszusprechen, stärkt das nur Erdoğan.

Die Frage ist, wofür Erdoğan und bald sicher auch Nachahmer die EU halten

Bemerkenswert ist doch, wie Russlands Präsident Wladimir Putin mit einem Tourismus- und Obstboykott Erdoğan gefügig machen konnte. Die EU, von der die Türkei wirtschaftlich in ungleich höherem Maße abhängt, wirkt hingegen wie gelähmt von der Angst, Erdoğan könnte das Flüchtlingsabkommen platzen lassen. Es liegt im beiderseitigen Interesse, das Abkommen am Leben zu erhalten. Weder ist noch kann dieser Vertrag aber für die EU das einzige Mittel sein, um die Lage unter Kontrolle zu halten. Es kommt nicht so sehr darauf an, ob die EU sich selbst für erpressbar hält. Die Frage ist vielmehr, wofür Erdoğan und bald sicher auch Nachahmer sie halten.

Wahr ist, dass die Suspendierung der Beitrittsverhandlungen keine Probleme löst. Sie wird die Türkei nicht zurück auf den Pfad der Demokratie führen. Sie gibt auch keine Antwort auf die Frage, wie ihr künftiges Verhältnis zur EU aussehen wird. Die Entscheidung wäre zunächst nicht weniger und nicht mehr als ein Akt der Selbstbehauptung.

Erdoğan gehört zusammen mit Donald Trump und Wladimir Putin zu jener Internationalen, welche die liberale Demokratie europäischer Prägung gerade unter Feuer nimmt. Auch innerhalb der EU verfügt diese unausgesprochene Allianz über eine beträchtliche Zahl an Verbündeten; in Polen und Ungarn sind sie bereits an der Macht. In dieser fürchterlichen Lage kann sich die EU, wenn es um die Grundlagen ihrer Gemeinschaft geht, keine taktischen Spielchen erlauben. Schon deshalb ist die Forderung aus dem Europäischen Parlament richtig, die Verhandlungen mit der Türkei so lange auszusetzen, bis es wieder etwas zu verhandeln gibt. Die Europäische Union kann keine Zweifel zulassen, dass sie es mit ihren Grundwerten ernst meint.

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