Türkei:Europa kann Erdoğans Drohung gelassen sehen

Recep Tayyip Erdogan

Derzeit fliehen viele Türken aus der Türkei - für diese würde Erdoğan die Grenzen sicher nicht öffnen.

(Foto: dpa)

Der türkische Präsident schwadroniert darüber, das Flüchtlingsabkommen zu kündigen. Doch die Lage ist jetzt anders als 2015.

Kommentar von Christiane Schlötzer

Im Leitantrag für den kommenden CDU-Parteitag heißt es: "Die Ereignisse des vergangenen Jahres dürfen sich nicht wiederholen." Was mit Ereignissen gemeint ist, muss nicht näher erläutert werden: eine Million Flüchtlinge auf der Balkanroute, die sich auf deutsche Willkommenskultur freuen. Nun liest Recep Tayyip Erdoğan gewiss keine CDU-Anträge, aber der türkische Präsident weiß, wie er Angela Merkel ärgern, neue Zwietracht in der EU säen und sich Aufmerksamkeit verschaffen kann.

Erdoğan muss dafür nur - und immer wieder gerne - mit der Kündigung des Flüchtlingsabkommens und der Öffnung der türkischen "Grenztore" drohen. Dass er dies gerade jetzt tut, zeigt, dass die Forderung einer überwältigenden Mehrheit des EU-Parlaments, die EU-Gespräche mit der Türkei einzufrieren, in Ankara eben doch als Schmach empfunden wird, weil sie türkischen Stolz verletzt - auch wenn Erdoğan zuvor noch tönte: "Das hat keine Bedeutung für uns."

Nun werden die EU-Regierungschefs der Empfehlung des Parlaments erst mal kaum folgen, wegen diverser Ängste und Rücksichten. Erdoğan weiß auch das, weshalb er zwar droht, aber gleich dazu sagt, die Mahnung gelte nur für den Fall, dass die EU "weitergeht". Erdoğan verhält sich wie ein Boxer, der seine Faust vorzeigt, den Arm jedoch wieder sinken lässt, weil er annimmt, der Gegner sei bereits eingeschüchtert. In der türkischen Politik funktioniert das derzeit verdammt gut, mit den bekannten Folgen.

In Berlin müsste man sich eigentlich viel weniger vor ihm fürchten. Denn was würde wirklich passieren, wenn Erdoğan ernst macht? Wenn die türkische Polizei wieder ganze Küstenabschnitte den Schleppern überließe? Die "Ereignisse" von 2015 würden sich nicht wiederholen, weil die meisten Syrer und Afghanen inzwischen wissen, dass sie auf griechischen Inseln eine Art Gefangenschaft im Exil erwartet. Denn aus der Ägäis führt für sie kaum noch ein Weg heraus. Mit dem Feriengefühl des Urlaubers hat das Leben in Zelten auf Lesbos nichts zu tun. Dort kommt es immer wieder zu Aufständen der Frustrierten; gerade gab es zwei Tote, eine Großmutter und ein Kind.

Was Griechenland betrifft, funktioniert das Abkommen nur sehr eingeschränkt. Die Asylverfahren dauern ewig, die Verwaltung ist weiter unfähig, die versprochenen EU-Juristen sind entweder schon wieder weg oder noch gar nicht da.

Sollten also wieder mehr Flüchtlinge aus der Türkei kommen, würde die Lage allein in Griechenland eskalieren. Die Balkanroute ist mit Zäunen verstellt und wird es bleiben. Und dass die EU auf einmal solidarisch mit ihrem ärmsten Mitglied wird und von Prag bis Paris mehr Geflüchtete verteilt, ist auch nicht zu erwarten.

Derzeit fliehen besonders viele Türken aus der Türkei

Die Welthungerhilfe nimmt an, dass die meisten Syrer, die noch in der Türkei sind, dort warten wollen, bis sie nach Syrien zurück können. Die Türkei hat die Grenze zum Nachbarn geschlossen, das hat sich womöglich sogar als wirksamer erwiesen als das Abkommen.

Derzeit fliehen aus der Türkei natürlich immer noch Menschen, wenn auch vergleichsweise wenige, darunter allerdings besonders viele Türken. Für sie würde Erdoğan die Grenztore gewiss nicht öffnen, denn er sähe sie lieber im Gefängnis als auf der Flucht.

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