Süddeutsche Zeitung

Türkei:Europa als Bittsteller

Die Flüchtlingskrise hat die Machtverhältnisse drastisch verändert. Die türkische Regierung kann nun gegenüber der EU auftrumpfen. Sie fordert einen hohen Preis für ihre Kooperation.

Kommentar von Stefan Kornelius

Über einen Stellvertreterkrieg in Syrien zu klagen, ist heuchlerisch, wo doch Baschar al-Assad schon immer ein Stellvertreterregime angeführt hat zur Wahrung der Interessen etwa Irans oder auch Russlands. Dieses Stellvertreterprinzip ist der erweiterten Region nicht fremd: Irak, Israel und die Türkei - seit jeher kollidieren Einflüsse, diesmal nur unter Einsatz schwerer Waffen.

Hinter diesen Zweckbündnissen verbergen sich satte Interessen, was plötzlich auch die Europäische Union und ganz besonders Deutschland zu spüren bekommen. Denn nun haben sich vor allem in den Beziehungen zur Türkei die Kräfteverhältnisse verschoben, und zwar zu Ungunsten der Westeuropäer, die es bisher gewohnt waren, Ankara mit erhobenem Zeigefinger entgegenzutreten.

Die Türkei hat so etwas wie ein Übergewichtsproblem in der Region. Sie ist zu groß und einflussreich, um sich still und genügsam einem Bündnis wie etwa der EU zu fügen. Sie ist aber auch nicht autonom und stark genug, um auf die EU-Europäer als Verbündete verzichten zu können.

Dieser Widerspruch hat die Beitrittsgespräche der Türkei mit der EU schon immer geprägt und beiden Seiten die Erkenntnis beschert, dass die Türkei kein EU-Mitglied sein kann und sein will - und dennoch eine besondere Beziehung zu Brüssel pflegen wird. Über diese Beziehung wird nun verhandelt, allerdings zu verdrehten Konditionen. Die Flüchtlingskrise hat die EU und besonders Deutschland in die Rolle des Bittstellers gedrängt. Der Umgang mit der Türkei erzwingt einen neuen Realismus, der gerade den Deutschen viel abverlangt und zu innenpolitischen Konflikten führen wird.

Ankara fordert einen hohen Preis in der Flüchtlingskrise

Zu beantworten ist die einfache Frage: Welchen Preis ist Deutschland zu zahlen bereit, um die Türkei als Transitland der vielen Flüchtlinge an seiner Seite zu wissen? Denn die Flüchtlinge kommen ja nicht nur, weil der Krieg eine neue Stufe der Brutalität erreicht hat und das Lagerleben in Jordanien, in Libanon und in der Türkei unerträglich wird. Sie kommen, weil die Türkei ihr Los nicht erleichtert und sie nicht aufhält.

Die Vermutung ist nicht ganz unberechtigt, dass die Türkei mit der Politik der Grenzöffnung und der Ignoranz gegenüber Schleppern die Aufmerksamkeit Europas erzwingt - und damit neue Verhältnisse schafft. Deutschland, das von Ankara zu Recht als europäische Führungsnation in dieser Frage wahrgenommen wird, kann dieses zynische Spiel entweder verweigern und die Flüchtlinge weiter aufnehmen. Oder es kann sich bemühen, seine Vorstellungen einer vernünftigen Flüchtlingspolitik durchzusetzen. Dazu gehören die Finanzierung und Betreuung der Lager, die Verteilung von Flüchtlingskontingenten auf die EU-Staaten, die Eindämmung der Schleuserkriminalität.

Die Visafreiheit ist überfällig

Der Preis: Die Türkei wird die Visafreiheit für ihre Staatsbürger verlangen sowie den Status als sicheres Herkunftsland trotz aller innenpolitischer Repressalien. Das wären enorme Zugeständnisse an einen Präsidenten, der sich gerade in abenteuerlicher Weise vom europäischen Wertekanon entfernt. Aber hat Europa, hat die Kanzlerin bei ihren Verhandlungen am Wochenende eine andere Option? Angela Merkel hat zumindest diese Wahl: die türkische Parlamentswahl in zwei Wochen.

Merkels Besuch darf Recep Tayyip Erdoğan nicht aufwerten, sondern muss den zweifelnden Türken die EU-Sicht klarmachen: Die Visafreiheit ist überfällig, aber mit der gesamten EU nur schwer durchzusetzen. Zu einem sicheren Drittstaat gehört aber das Ende der politischen Repression und eine Versöhnungspolitik mit der Kurdenpartei HDP. Erdoğan und sein Premier Davutoğlu wollen Aufmerksamkeit? Sie sollen sie bekommen.

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Quelle:
SZ vom 14.10.2015/dayk
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