EU-Beziehungen zur Türkei:Tiefes Misstrauen

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Als "respektvoll und offen" bezeichnen Ratspräsident Charles Michel und EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen ihr jüngstes Gespräch mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. (Foto: Stephanie Lecocq/AP)

Die Außenminister der EU und auch die Staats- und Regierungschefs befassen sich mit dem Verhältnis zur Türkei - und formulieren mögliche Strafmaßnahmen.

Von Matthias Kolb, Brüssel

Eigentlich hat Recep Tayyip Erdogan andere Pläne gehabt. Noch im Februar wollte der türkische Präsident die Chefs von EU-Kommission und Europäischem Rat, Ursula von der Leyen und Charles Michel, in Ankara empfangen. Nach monatelangen Provokationen hatte er im November erklärt, die Türkei "wolle ihre Zukunft mit Europa bauen". 2021 hat sich Ankaras Werben intensiviert, doch das Misstrauen sitzt tief. Es lag also nicht nur an Corona, dass Michel und von der Leyen am Freitag nur virtuell mit Erdogan sprachen.

Der Zeitpunkt war gut gewählt: Am Montag werden die EU-Außenminister in Brüssel über die Türkei beraten, am Donnerstag dann die Staats- und Regierungschefs. Im Dezember hatte vor allem Deutschland Sanktionen verhindert und dafür gesorgt, dass die EU der Türkei eine Positivagenda in Aussicht stellte, wenn diese ihr Verhalten ändert. Damals erhielt der Außenbeauftragte Josep Borrell den Auftrag, einen Bericht über den "aktuellen Stand der politischen, wirtschaftlichen und Handelsbeziehungen" vorzulegen. Er umfasst 15 Seiten und liegt der Süddeutschen Zeitung vor.

"Politische und wirtschaftliche Konsequenzen"

Der brisanteste Teil steht am Ende: Sollte die Türkei zurückkehren zu ihren "unilateralen Handlungen oder Provokationen", die das Völkerrecht verletzen, so müsste sie "politische und wirtschaftliche Konsequenzen" spüren. Als mögliche Strafmaßnahmen, die umkehrbar sein sollten, werden fünf Punkte genannt: Die im Dezember im Grundsatz beschlossenen Strafen gegen Mitarbeiter des Energiekonzerns TPAO wegen der nicht genehmigten Bohrtätigkeiten der Türkei im östlichen Mittelmeer könnten beschlossen und die bestehenden Sanktionsregime ausgeweitet werden.

Erwogen wird auch eine Einschränkung der Wirtschaftskooperation, etwa durch weniger Engagement der Europäischen Investitionsbank. Punkt 4 schlägt vor, "für die türkische Wirtschaft wichtige Sektoren" ins Visier zu nehmen, und nennt explizit den Tourismus: Die EU-Mitglieder könnten etwa Reisewarnungen aussprechen. 2019, kurz vor der globalen Pandemie, kamen 52 Millionen Touristen in die Türkei; die Branche sorgt für 12 Prozent des Bruttoinlandprodukts. Zuletzt könnte der Energiesektor getroffen werden, durch ein Verbot der Ein- und Ausfuhr von "bestimmten Gütern und Technologien".

In der Videokonferenz sprachen Michel und von der Leyen jene Themen an, die für die EU besonders wichtig sind: die Lage im östlichen Mittelmeer, wo die Türkei monatelang nach Rohstoffen in Gewässern suchte, die die EU-Mitglieder Griechenland und Zypern für sich beanspruchen, sowie die für April geplanten UN-Gespräche über die geteilte Insel Zypern. Dass Ankara keine Bohrschiffe mehr losschickt und Sondierungsgespräche mit Athen absolviert hat, wird als Zeichen der Deeskalation gesehen. Aber natürlich wird registriert, was Erdogan jüngst über den Erdgasstreit sagte: "Zugeständnisse kommen nicht infrage." Mit "alles andere als perfekt" beschreiben EU-Diplomaten das Verhältnis.

Eine härtere Kritik an Ankara wird vermieden

Dass Erdogan am Samstag bekannt gab, sein Land werde die Istanbul-Konvention des Europarats zum Schutz von Frauen vor Gewalt verlassen, bestärkt all jene, die seiner neuen Hinwendung zur EU nicht trauen. Umgehend forderte Borrell, den Schritt rückgängig zu machen. Auf Twitter nannte von der Leyen Gewalt gegen Frauen "nicht hinnehmbar" und rief alle Unterzeichner der Istanbul-Konvention auf, sie zu ratifizieren. Auch wenn der Außenbeauftragte von einer "gefährlichen Botschaft an die Welt" sprach: Eine härtere Kritik an Ankara wird vermieden, da mit Lettland, Litauen, Ungarn, Bulgarien, Tschechien und der Slowakei sechs EU-Mitglieder die Konvention nicht ratifiziert haben.

Seit Wochen wurde in Brüssel erwartet, dass die Regierungschefs die EU-Kommission beauftragen, Vorschläge zu machen, um die 2016 geschlossene "EU-Türkei-Vereinbarung" zu Migrationsfragen fortzusetzen. Im Borrell-Bericht heißt es, dass die Kommission "schnell Optionen vorbereiten" wird, um Flüchtlinge und aufnehmende Gemeinden in der Türkei weiter zu unterstützen. Am Prinzip, dass Hilfsorganisationen die syrischen Flüchtlinge versorgen, will die EU festhalten: "Wir haben ein echtes Eigeninteresse daran, auf diesen Erfolgsgeschichten der letzten Jahre aufzubauen." Als denkbar gilt, dass die Kommission eine Modernisierung der Zollunion prüfen soll - ein Mandat erfordert Einstimmigkeit, so dass Griechen, Zyprer oder Franzosen erst mal nichts aus der Hand geben.

Ein Besuch von der Leyens und Michels in Ankara könnte nach dem EU-Gipfel stattfinden. Dieser wird wegen der "Welle an Covid-Fällen in den Mitgliedstaaten" virtuell stattfinden, entschied Michel. Wegen der innenpolitischen Debatten hätten gerade Deutschland, Frankreich und Italien nicht darauf bestanden, dass die Staats- und Regierungschefs nach Brüssel reisen, heißt es.

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