Süddeutsche Zeitung

Europäische Union:Türkei empört sich über EU-Bericht

Die Kommission in Brüssel stellt Ankara ein vernichtendes Zeugnis aus, die Beitrittsverhandlungen kommen nicht mehr voran. In einem Punkt allerdings gibt es ausdrückliches Lob.

Von Tomas Avenarius und Josef Kelnberger, Brüssel/Istanbul

Sehr viel vernichtender kann die Europäische Union nicht urteilen über ein Land, das Aufnahme in ihrem Kreis finden will. "Die Beitrittsverhandlungen sind effektiv zu einem Stillstand gekommen", schreibt die EU-Kommission bereits auf Seite eins ihres Türkei-Berichts 2021, der am Dienstag veröffentlicht wurde.

Es gebe "ernsthafte Defizite in der Funktionsweise der demokratischen Institutionen", steht auf Seite sechs. So geht das immer weiter bis zur 120. und letzten Seite: die Übermacht des Präsidenten, die mangelhafte Gewaltenteilung, der staatliche Druck auf Justiz und Zivilgesellschaft, Repressionen gegen Bürgermeister von Oppositionsparteien, keine Fortschritte im Kampf gegen Korruption, außenpolitische Grenzüberschreitungen. Präsident Recep Tayyip Erdoğan habe Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zurückgefahren, Empfehlungen seien ignoriert worden, heißt es. Die Tür zur EU ist geschlossen.

Seit 2005 verhandelt die Europäische Union mit der Türkei über eine Mitgliedschaft. Einen Tiefpunkt erreichten die Beziehungen 2016, als Erdoğan nach einem gescheiterten Putschversuch den staatlichen Behörden Sonderbefugnisse gewähren ließ. Sie gelten bis heute und schränken die Grundrechte im Land massiv ein. Vor allem daran liegt es, dass Brüssel zu wenig positive Entwicklungen bei den Eckpunkten einer Annäherung an europäische Standards, den sogenannten Acquis, sieht.

Die türkische Regierung reagierte auf den Bericht ebenso entrüstet wie erwartbar. Der Kommissionsbericht sei "unfair", enthalte "haltlose Behauptungen" und stehe für die "Doppelmoral" Europas, erklärte das Außenministerium laut der Agentur Anadolu. Der Bericht ignoriere die Verantwortung der EU gegenüber Ankara als Beitrittskandidaten. Ankara ist erbost darüber, dass die EU-Beitrittsgespräche seit Jahren auf Eis liegen und über die Öffnung oder Schließung von Verhandlungskapiteln nicht mehr geredet wird.

Offensichtlich hält allein die Flüchtlingsfrage die EU von einer Beendigung der Beitrittsgespräche ab: Bei der Migration bleibt die EU auf die Türkei angewiesen; sie zahlt dafür Milliardenbeträge im Rahmen des Flüchtlingsdeals. In Sachen Migration wird die Türkei in dem Bericht sogar ausdrücklich gelobt. 2020 hatte das Land noch Migranten ermuntert, sich über Griechenland auf den Weg nach Europa zu machen. Die Eskalation sei gestoppt worden. Wörtlich heißt es: "Die Türkei leistet weiterhin beträchtliche Anstrengungen, um die größte Flüchtlings-Gruppe der Welt zu beherbergen und ihre Bedürfnisse zu befriedigen."

Schon kurz vor Veröffentlichung des Kommissionsberichtes hatte Ankara Schelte zu hören bekommen: Zehn Botschafter hatten in einer gemeinsamen Erklärung ein faires Verfahren für den seit vier Jahren ohne Gerichtsurteil inhaftierten Kulturmäzen Osman Kavala gefordert. Sie sähen die Rechtsstaatlichkeit im Land infrage gestellt, so die Diplomaten. Auch hier reagierte Ankara empört. Die Botschafter, unter ihnen der deutsche Vertreter, wurden ins Außenministerium einbestellt.

Fast zeitgleich erging ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte: Am Fall eines türkischen Bürgers aufgehängt, der wegen angeblicher "Präsidentenbeleidigung" verurteilt worden war, wurde dieses gegen Oppositionelle und Andersdenkende rigoros angewendete juristische Instrument ebenfalls als Verstoß gegen den Standard europäischer Rechtsprechung gebrandmarkt.

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