Türkei nach dem Referendum:Erdoğans Türkei ist so gespalten wie Trumps Amerika

Türkei Referendum

Präsident Recep Tayyip Erdoğan und seine Frau Emine zeigen sich am Wahltag vor Anhängern in Istanbul.

(Foto: Yasin Bulbul/dpa)

Der Präsident hat das Verfassungsreferendum gewonnen, aber nur knapp - und auch nur auf dem Land. Womöglich wird er die zusätzliche Macht niemals ausüben können.

Kommentar von Christiane Schlötzer

Recep Tayyip Erdoğan hat einen Sieg errungen, sein Volk hat ihm so viel Macht anvertraut wie keinem Türken seit Kemal Atatürk, und es hat auch gleich noch Atatürks fast 100 Jahre alte Republik beerdigt. Aber Erdoğan ist ein zerfledderter Sieger, ein Sultan in zerrissenen Kleidern. Denn jeder zweite Türke verweigerte sich seinem postkemalistischen Projekt, seinem konservativ-autoritären Staatsumbau. Und das trotz einer Wahlkampagne, die eher ein Feldzug war, geprägt von Furcht und Schrecken, und angeführt vom Staatspräsidenten persönlich, der sich nicht darum scherte, dass die noch geltende Verfassung von ihm eigentlich Neutralität verlangt.

So muss dieser Sieg auch für Erdoğan bitter schmecken. Denn der Langzeitherrscher kann sich von nun an nicht mehr absolut sicher sein, dass er die absolute Macht, die ihm die neue Verfassung verleihen soll, je wirklich erhält. Die Verfassungsänderung tritt erst nach den Parlaments- und Präsidentenwahlen im November 2019 in Kraft. Dass Erdoğan diese gewinnt, ist nach dem Ergebnis vom Sonntag keineswegs gewiss. Denn die von ihm vor 15 Jahren gegründete AKP hat jetzt nur mit Hilfe der Nationalistenpartei MHP diesen Pyrrhussieg errungen. Die Ultranationalisten aber werden 2019 wieder eigene Wege gehen.

Verloren hat Erdoğan schon jetzt die fünf größten Metropolen, gar die Kapitale Ankara und - für ihn besonders schmerzlich - seine Heimatstadt Istanbul, wo 1994 seine Karriere mit dem Aufstieg ins Bürgermeisteramt begann. Dort hatte die AKP bislang keine Wahl verloren. Auch an der Ägäisküste, wo die Touristenhotels leer bleiben, mochte die Mehrheit einem Präsidenten nicht folgen, der sich immer neue Feinde macht. Ägäis gegen Anatolien, urbane Zentren gegen weites Land, Akademiker gegen Arbeiter: Die Türkei ist tief gespalten, ganz ähnlich wie Trumps Amerika. So klar konnte man das bisher noch nie sehen.

Solange die vielen Wahlbetrugsvorwürfe nicht aus der Welt geschafft sind, haftet an diesem Sieg auch noch der Geruch eines Staatsstreichs. Genau genommen, hätte die Abstimmung unter Ausnahmezustandsrecht gar nicht stattfinden dürfen, mit geknebelter Presse, inhaftierten Oppositionspolitikern, der Einschüchterung aller Gegner des Präsidenten.

Die Beitrittsverhandlungen sind zur Farce geworden

Mit der Verfassungsänderung und Erdoğans totalitärem Machtanspruch verabschiedet sich die Türkei von westlichen Vorbildern, denen sie einst nacheiferte. Sie reiht sich ein in nahöstliche und kaukasische Herrschaftsmuster. Gratuliert haben Erdoğan denn auch sofort der Emir von Katar und der Präsident Aserbaidschans, wo man es mit den Menschenrechten auch nicht so genau nimmt.

Gerade weil das Ergebnis so knapp und so fragwürdig ist, wird Erdoğan seinen Konfrontationskurs gegenüber Europa fortsetzen. Er wird weiter polarisieren und polemisieren, denn nur so kann er von dem ablenken, was seiner "neuen Türkei" gefährlich werden könnte: wirtschaftlicher Niedergang, die Flucht von Kapital und Köpfen, Rechtsstaatsverfall, Korruption. Eine Türkei mit einem Präsidenten aber, der sich an die Stelle von Parlament und Justiz setzt, der sein Volk nun auch noch über die Todesstrafe abstimmen lassen will, passt nicht in die EU. Die Beitrittsverhandlungen sind zur Farce geworden.

Nur darf die EU auch nicht vergessen, dass es neben Erdoğans neuer Türkei noch die alte gibt, die um Aufmerksamkeit ringt. Die Demokratie in der Türkei ist eben nicht tot. Die Opposition ist bunt: Linke, Liberale, Kurden, Sozialdemokraten, einzelne Konservative - sie haben unter widrigsten Umständen in einem höchst unfairen Wahlkampf nur um Haaresbreite verloren. Das ist fast ein politisches Wunder. Opposition und Zivilgesellschaft werden nicht aufhören, Erdoğans Gesellschaftsumbau infrage zu stellen.

Getragen wird Erdoğan noch immer von jenen Türken, die ihm wahrscheinlich ihr Leben lang dankbar dafür sein werden, dass sie auch in der anatolischen Provinz gute Krankenhäuser haben und eine Rentenversicherung für alle. Zum Sieg verholfen haben ihm paradoxerweise aber auch jene gut 50 Prozent der Deutsch-Türken, die keine Stimme abgegeben haben, weil sie mit dieser Türkei gar nichts mehr am Hut haben oder haben wollen. Genauso natürlich wie jene, die in Deutschland für Erdoğans fragwürdige Reform gestimmt haben, obwohl sie nicht mit ihren Folgen leben müssen.

Erdoğan dürfte jetzt wissen, dass die Zeit womöglich gegen ihn arbeitet. Aber er wird die Warnzeichen wahrscheinlich ignorieren und weiter alles für den Machterhalt tun. Denn er kennt die Geschichte seines Landes zu gut. Sultane wurden verbannt, spätere Regenten vor Gericht gestellt, getötet. Das Volk jubelt, und es kann erbarmungslos sein.

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