Türkei:Erdoğans persönlicher Gezi-Moment

Türkei: Die Menschen in der Türkei gehen wieder auf die Straße - dieses Mal aber für Erdoğan.

Die Menschen in der Türkei gehen wieder auf die Straße - dieses Mal aber für Erdoğan.

(Foto: AFP)

In der Türkei gehen die Menschen wieder auf die Straße - doch dieses Mal feiern sie den Präsidenten. In der Putschnacht ist er offenbar nur knapp dem Tod entronnen.

Von Mike Szymanski, Istanbul

Tagsüber arbeiten, abends für Erdoğan auf die Straße gehen. In Istanbul erlebt der Staatspräsident gerade seinen persönlichen "Gezi"-Moment. Anders als bei den Protesten um den Gezi-Park im Jahr 2013 gehen die Leute jetzt für ihn auf den Taksim-Platz, und nicht gegen ihn.

Eine richtige Show läuft, mit Lichtspielen und lauter Musik. In drei Tagen sollen eine Million Türkeifahnen in Istanbul verkauft worden sein. Viele sieht man gerade am Taksim wehen. Es sind vor allem Erdoğan-Anhänger, die den überstandenen Militärputsch feiern. Manche sind zu erkennen an Stirnbändern, die den Namen des Präsidenten tragen. Aber nicht nur. Dass die Armee noch einmal nach der Macht im Land greifen würde, dass Soldaten auf das eigene Volk schießen würden, das hat auch jene empört, die Erdoğan nicht wählen.

Man fragt sich nach all den Festnahmen: Kann dieser Staat überhaupt noch funktionieren?

Noch hat die Regierung den Triumphmoment nicht voll ausgekostet. Erdoğan hat seine Anhänger gebeten, die ganze Woche abends die großen Plätze zu besetzen. Während sie feiern, läuft eine der größten "Säuberungen", die das Land erlebt hat. Die Regierung jagt ihre Verräter.

Als Drahtzieher des Putsches vermutet Erdoğan seinen einstigen Weggefährten und heutigen Gegner Fethullah Gülen. Der Prediger lebt im Exil in den USA. In der Türkei unterhält er aber ein stattliches Unterstützernetzwerk. Beharrlich hatte Gülen über viele Jahre hinweg seine Leute in die Schaltstellen hineinwachsen lassen. Es ist nicht das erste Mal, dass Erdoğan versucht, die "Gülenisten" von einflussreichen Posten zu entfernen. Man dachte, das Netzwerk wäre schon erheblich geschwächt worden. Aber die Rigorosität, mit der Erdoğan diesmal vorgeht, lässt ahnen, dass er eine wohl noch viel größere Verschwörung vermutet.

In der Nacht zu Dienstag, um zwei Uhr morgens, hat das Polizeipräsidium in Ankara alle 81 Provinzen des Landes angeschrieben und eine große Suspendierungswelle in Gang gesetzt. Fast 8000 Polizisten, darunter 3000 Vorgesetzte, zieht das Innenministerium aus dem Verkehr. Mehr als ein Drittel aller Gouverneure setzt die Regierung ab. Leute, die sie selbst ins Amt gehoben hatte, sollen jetzt gemeinsame Sache mit den Putschisten gemacht haben. Selbst Steuerbeamte müssen gehen. Am härtesten geht die Regierung in der Armee vor. Dutzende Generäle sitzen schon im Gefängnis, mehrere Tausend Soldaten sind verhaftet. Tausende Richter und Staatsanwälte wurden ausgetauscht und zum Teil festgenommen. Dieser Putsch sei eben nicht das Werk einiger weniger gewesen, erklärt Präsidentensprecher Ibrahim Kalın die hohe Zahl an Festnahmen. Am Dienstagnachmittag wird bekannt, dass auch 15 000 Beamte des Bildungsministeriums suspendiert worden seien.

Man fragt sich schon: Kann dieser Staat überhaupt noch funktionieren? Der wichtigste General für den Anti-Terror-Kampf gegen die PKK und den IS: als Putschist verhaftet. Der Kommandeur des Luftwaffenstützpunktes Incirlik, auf dem auch deutsche Tornado-Piloten stationiert sind: auch weg. Kein Stein bleibt auf dem anderen. Noch hat das Land die Putschtage nicht verarbeitet, gefühlt herrscht immer noch Ausnahmezustand. Was nicht funktioniert, wird sich wohl erst in den nächsten Tagen und Wochen zeigen. Kalın sagt, man müsse sich nicht sorgen. Man sei schon dabei, alle Posten nachzubesetzen. "Der Staat funktioniert."

In jedem Fall funktioniert die Abschreckung. Im Fernsehen und im Internet kann man anschauen, wie das Land mit Verrätern umgeht. Der als Putschführer beschuldigte frühere Luftwaffenkommandeur Akın Öztürk wird der Presse mit den Händen auf dem Rücken präsentiert, gefesselt mit einem Kabelbinder. Sein rechtes Ohr ist verbunden, im Gesicht und an den Armen erkennt man Verletzungen. Ist er misshandelt worden? Türkische Menschenrechtsorganisationen warnen schon, auch ein Putsch legitimiere keine Folter. Kalın sagt, man halte sich an die Gesetze. Aber das tun offenbar nicht alle Polizisten.

Erdoğan ist offenbar nur knapp dem Tod entgangen

Auf einem Istanbuler Polizeirevier filmt ein Beamter. Offiziere haben sich bis auf die Unterhose ausziehen müssen. In Kopfhöhe eines Festgenommenen klebt Blut an der Wand. Die Offiziere werden beschimpft, Polizisten drohen, deren Familien etwas anzutun. Die regierungskritische Cumhuriyet berichtet, Krankenhausärzten solle vom Management nahegelegt worden sein, keine Atteste über Misshandlungen auszustellen. Längst hat eine Debatte über die Wiedereinführung der Todesstrafe im Land begonnen.

Die Wut im Land auf die Putschisten ist riesengroß. Die Lage muss für die Staatsspitze bedrohlicher gewesen sein als zunächst bekannt. Recep Tayyip Erdoğan ist in der Nacht zu Samstag offenbar knapp dem Tod entgangen. Er hatte Urlaub in der Mittelmeerstadt Marmaris gemacht. "Wenn ich in Marmaris noch 15 Minuten länger geblieben wäre, hätten sie mich entweder entführt oder getötet", zitiert die Zeitung Hürriyet den Staatspräsidenten.

Ein Flotten-Kommandeur wurde auf eine Fregatte gelockt - erst da erfuhr er, was los war

Drei Helikopter mit Spezialeinheiten hatten sich auf den Weg nach Marmaris gemacht. Sie hätten den Auftrag gehabt, Erdoğan nach Ankara zu bringen. "Tot oder lebendig", sagt Kalın. Als diese Männer Erdoğans Urlaubshotel erreichten, war der Staatspräsident aber schon auf dem Weg nach Istanbul. Die Putschisten scheiterten auch mit ihrem Plan, angeblich 5000 speziell im Anti-Terror-Kampf ausgebildete Soldaten aus dem Südosten des Landes nach Ankara zu bringen, berichtet die Hürriyet.

Transportflugzeuge sollten von Militärbasen in Malatya, Kayseri und Ankara abheben und in der südostanatolischen Stadt Şırnak die Kämpfer abholen. Eine regelrechte Luftbrücke sollte gebildet werden. Erste C-130-Transportflugzeuge seien bereits in Şırnak gelandet. Doch die Behörden hätten rechtzeitig Wind von dem Plan bekommen. Das Gouverneursamt schickte Feuerwehrfahrzeuge, die das Rollfeld blockierten und so die Transporter am Start hinderten.

Der Geheimdienst hatte am Freitagnachmittag gegen 16 Uhr erste Informationen an die Armee übermittelt, dass an der Befehlskette vorbei agiert werde. Das war knapp sechs Stunden bevor die Putschisten losschlugen.

Kalın sagt, bisher deuteten alle Erkenntnisse auf Gülen als Drahtzieher hin. Man sei gerade dabei, ein offizielles Auslieferungsersuchen an die USA zu erstellen. Sollten die Amerikaner sich weigern, könnten viele Leute in der Türkei denken, er werde von den USA "beschützt".

Am Abend telefonierte Präsident Barack Obama mit Erdogan in der Sache. Er bot ihm Unterstützung bei der Aufklärung des Putschversuchs an, mahnte aber zugleich, sich an die in der Verfassung festgehaltenen demokratischen Prinzipien zu halten.

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