Türkei:Erdoğans ängstlicher Islam

Commuting On The Bosphorus Where East Meets West

Der Bosporus in Istanbul: In der Wohnsiedlung Başakşehir wohnt die neue, fromme Mittelschicht.

(Foto: Getty Images)

In der Istanbuler Wohnsiedlung Başakşehir lebt die aufstrebende Mittelschicht. Hier lässt sich der neue Islamismus besichtigen, den die Regierungspartei AKP erschaffen hat.

Von Mike Szymanski

Die neue, fromme Türkei, das ist Abendunterhaltung. Es gibt Rotwein, Häppchen. Dazu eine Videoinstallation, die an ein Roadmovie erinnert. Die Filmemacher waren unterwegs, in einer für sie fremden Welt. Auf der Suche nach der neuen türkischen Identität.

Architekten, Künstler, Wissenschaftler, Journalisten und ein paar Nachtschwärmer sind gekommen. Es ist Freitagabend. Das Studio X ist ein Ausstellungsraum im Zentrum von Istanbul. Drinnen: nackter Beton und Schlichtheit auf zwei Etagen. Draußen eine vierspurige Ausfallstraße. Ein paar Minuten zu Fuß liegt der Taksim-Platz. Laufen kann man auch bis in die verwinkelten Kneipenviertel, in denen getrunken, getanzt, geliebt und gehasst wird.

Der Film spielt 25 Kilometer entfernt, in Başakşehir. Eine künstliche Stadt, ein Zuhause für knapp 350 000 Menschen, die abends nicht die Lichter der Großstadt sehen wollen. Zu den Gebetszeiten schalten Restaurantbetreiber die Musik aus. Sport machen Männer und Frauen getrennt. Manche Lokale reservieren Frauengruppen die Nachmittagsstunden, damit sie unter sich bleiben können. Wenn man einen Besuch im Einkaufszentrum Olimpa zum Maßstab nimmt, dann sind Frauen ohne Kopftuch die Minderheit. Eingehegt wird dieses Leben von Mauern und Stacheldraht.

"Das ist nicht der Islam, den wir kannten"

In Başakşehir lebt die neue Mittelschicht, die in 13 Jahren AKP-Herrschaft herangereift ist. Aufstrebend, einerseits. Man muss es sich leisten können, in Başakşehir zu wohnen. Abschottend andererseits. Weil man entweder dazugehört - oder eben nicht. Hier lässt sich der neue Islamismus besichtigen, den die religiös-konservative Regierungspartei erschaffen hat. Die Frage steht ja schon lange im Raum: Was hat der heutige Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan in all den Jahren aus diesem säkularen Land gemacht, in dem die Trennung von Staat und Religion in der Verfassung verankert ist?

Başakşehir, auch das ist Istanbul heute. Begonnen wurde der Stadtteil als Wohnsiedlungsprojekt in den Neunzigerjahren, als Erdoğan noch Bürgermeister war. Das Vorhaben reiht sich ein in seinen Gigantismus, der eben nicht nur Mega-Brücken, Mega-Moscheen und Mega-Tunnel hervorgebracht hat. In Başakşehir geht es um eine geistige Arbeit, sagen seine Anhänger.

"Başakşehir, ein urbanes Modell", heißt die Ausstellung im Studio X. Spricht man mit der deutschen Filmemacherin Sandra Schäfer und ihrer türkischen Kollegin, der Stadtsoziologin Ayşe Çavdar, spürt man schnell, dass es um mehr geht als um ein religiös aufgeladenes Neubauquartier. Ayşe Çavdar hat eine Doktorarbeit über ihre Zeit in Başakşehir geschrieben. Von September 2010 bis März 2011 hat sie dort gelebt. Wie die Zeit war? Die 40-Jährige stellt ihr Rotweinglas beiseite: "Es war die deprimierendste Zeit in meinem Leben. Paranoid. Das ist nicht der Islam, den wir kannten."

Klick, klick, klick. Das ist es, was hängengeblieben ist bei ihr. Nacht für Nacht dieses Geräusch. Das waren die Türschlösser, wenn sich die Nachbarn verbarrikadierten, weil sie befürchteten, jemand könnte ihnen etwas von ihrem neuen Reichtum wegnehmen. Irgendwann hat die große Ängstlichkeit auch von Ayşe Çavdar Besitz ergriffen. Wenn sie nach Einbruch der Dunkelheit als Frau noch alleine auf der Straße unterwegs war, lernte sie Schatten fürchten. Wer sollte ihr zu Hilfe kommen, wenn etwas passiert? Und vor allem: wie? Bei all den Mauern, bei all dem Stacheldraht.

Siegeszug des politischen Islam

Türkei: Aslı Mercan führt in Başakşehir eine Boutique. In Mode sind knöchellange Gewänder, die die weibliche Figur nicht betonen.

Aslı Mercan führt in Başakşehir eine Boutique. In Mode sind knöchellange Gewänder, die die weibliche Figur nicht betonen.

(Foto: Mike Szymanski)

Vom Zentrum aus ist man fast eine Stunde unterwegs, bis eine Rolltreppe die Fahrgäste der U3 wieder ans Licht befördert. Der erste Eindruck: Nichts los hier. In Istanbul spielt das Leben normalerweise auf der Straße. Hier ist die Straße nur dazu da, um von A nach B zu kommen. Dabei hat Başakşehir, wonach man sich andernorts sehnt: 46 000 Quadratmeter Grün. Nagelneue Sportanlagen. Einen künstlichen Fluss. In Başakşehir leben die Menschen in Bauabschnitten, das ist das Ordnungsprinzip: von Etappe 1 bis Etappe 5. Am Wasser sind die Stadtvillen. Dort hört man im Sommer abends Frösche, erzählen die Anwohner. Die Stadtverwaltung hat welche aussetzen lassen. Auf Luftbildern sieht Başakşehir wie eine riesige Insel aus.

Als Aslı Mercan das erste Mal herkam - um das Jahr 2000 - stapfte sie noch durch Schlamm. Die Straßen waren nicht fertig. Aber sie fühlte sich schon zu Hause. Damals hat sie angefangen, Kopftuch zu tragen. Die AKP war noch nicht an der Macht. Aber der politische Islam hatte seinen Siegeszug in diesem Land angetreten. In diesem Viertel war Aslı Mercan nicht allein mit ihrem Kopftuch. Ob die Türkei islamischer geworden ist? "Aber nein", sagt die 34-Jährige. "Jetzt zeigt man nur gerne, dass man religiös ist." In Başakşehir führt sie eine Boutique. Sie verkauft knöchellange Gewänder, die die Kurven der Frauen verschwinden lassen. Ihre Kleider sind in Başakşehir Mode. "Wir wohnen hier bequemer", sagt Aslı Mercan. "Başakşehir bedeutet Lebensqualität." Ins Zentrum von Istanbul zieht es die Geschäftsfrau nicht. Als vor fünf Jahren das Einkaufszentrum Olimpa eröffnete, kam Erdoğan zur Feier. Er wollte dabei sein, wenn seine Türkei so wird, wie er sich das vorstellt.

"Wir sind Kinder der AKP"

In Başakşehir steht eine der größten religiösen Schulen des Landes. Ein moderner Bildungspalast. Erdoğan ist selbst auf eine dieser Imam-Hatip-Schulen gegangen, die früher die Aufgabe hatten, den Predigernachwuchs auszubilden, dann aber immer mehr zu allgemeinbildenden Schulen wurden. Bevor die AKP das Land zu regieren begann, gab es eine Zeit, in der man mit deren Abschlüssen nicht weit kam. Das war das Ergebnis jahrzehntelanger Ausgrenzungspolitik. Jetzt ist es umgekehrt. In Başakşehir ist die religiöse Schule die beste am Ort. Sie hat Platz für 2500 Schüler. Dort wächst eine "Generation Erdoğan" heran, für die der Kemalismus, das Unsichtbarmachen von Religion, ein düsteres Kapitel im Geschichtsbuch ist. "Wir sind Kinder der AKP", erzählt eine junge Frau nach Schulschluss. Sie trägt ein kunstvoll gelegtes lila Kopftuch zur Tarnfleck-Winterjacke mit Fellkapuze. So sieht der Crossover-Islam der AKP aus.

In den ersten Jahren an der Macht gab sich die AKP mehr konservativ als islamisch. Erdoğan hatte gelernt, dass er das kemalistisch geprägte Establishment nicht provozieren durfte, solange die AKP ihre Macht nicht konsolidiert hatte. Das ist nun der Fall. Erdoğan hat das Militär entmachtet. Die Opposition ist schwach. Nun arbeitet die AKP an einem islamischen Grundrauschen in der Gesellschaft.

Die AKP-Regierung nutzt die Werkzeuge der Kemalisten. Die Behörde Diyanet - gegründet, um die Religionsausübung in dem Land zu kontrollieren und zu bürokratisieren - wuchs zu einem mächtigen Apparat heran: 63 Prozent mehr Personal. Doppelt so viel Geld, neue Befugnisse. Die Zahl der Religionsschulen im Land verdoppelte die AKP. Es sollen jetzt etwa 1000 sein. Auf der asiatischen Seite Istanbuls wächst die Çamlıca-Moschee in den Himmel. Sechs Minarette. Sie soll es mit der Istanbuler Hauptmoschee Sultanahmet aufnehmen. Die neue Moschee wird Platz für bis zu 60 000 Gläubige bieten.

Geschäfte mit der AKP-Elite

Erdoğans Kurs der Islamisierung berührt den Alltag aller. Komische Züge nimmt er an, wenn das "Rakı-Festival" nun "Kebab-Festival" heißen muss, weil mit Schnaps nicht mehr geworben werden soll. Überhaupt, der Alkohol: In Präsentkörben hat er nichts mehr zu suchen, das ist das neueste Werk der Islamokraten. Der Steuersatz für Bier ist unter der AKP von 18 auf 60 Prozent gestiegen.

Der AKP-Islam hat etwas Kulissenhaftes. Die Partei verhängt strengere Alkoholgesetze. Es ist aber statistisch belegt, dass es ein wachsendes Trinkerproblem nicht gibt. 10 000 neue Moscheen sind entstanden. Aber wenn nicht gerade Freitagsgebet ist, verlieren sich die Gläubigen darin. Die Zahl der Scheidungen hat 2014 um fast fünf Prozent zugenommen. Paare heiraten seltener. "Man kann den Staat islamisieren. Die Gesellschaft zu islamisieren ist viel schwieriger", sagt der Istanbuler Politikwissenschaftler Ayhan Kaya. Er glaubt, dass sich Teile der Gesellschaft dem Mainstream anpassen. Das Kopftuch ist dann weniger Bekenntnis als der Versuch, lästigen Diskussionen aus dem Weg zu gehen. Gerade wenn man einen Job in der Verwaltung anstrebt. Und wer Geschäfte machen will, pflegt Kontakte beim Gebet.

"Was hat dieser Islam noch mit dem traditionellen Islam zu tun?"

Dass es längst nicht nur die Religion ist, die die AKP und ihrer Anhängerschaft verbindet, hat auch Ayşe Çavdar in Başakşehir gelernt. Vielleicht dort deutlicher als irgendwo anders. Mit dem politischen Aufstieg der AKP ist auch ihre Wählerschaft aufgestiegen. Das Land erlebte Boom-Jahre unter Erdoğan. Wer nach Başakşehir zieht, zeigt, dass auch er es geschafft hat.

Die Leute haben Kredite aufgenommen. Manche vermieten Appartements weiter. Sie machen jetzt selbst Geschäfte mit der AKP-Elite. Und sie investieren. "Sie sind jetzt angedockt an das weltweite Wirtschafts- und Finanzsystem", sagte Ayşe Çavdar. Für die Soziologin kam es nicht überraschend, dass die Partei die Alleinregierung im November mit dem Versprechen zurückerobern konnte, nur sie allein könne für stabile Verhältnisse sorgen. Als die AKP bei der Wahl im Sommer die absolute Mehrheit verloren hatte und sich die politische wie wirtschaftliche Lage im Land Monat für Monat verschärfte, machte sich bei vielen Anhängern Existenzangst breit.

Ayşe Çavdar sagt, sie habe gelernt, warum das Sicherheitsdenken für die Menschen in Başakşehir zur Obsession geworden ist. All die Überwachungsmonitore, die Security. In all den Monaten habe sie kaum tiefe Bekanntschaften schließen können. Einmal erzählte ihr eine Nachbarin: "Die Leute sind wie du als Wissenschaftlerin. Sie reden nur miteinander, um sich gegenseitig auszufragen." "Verlust der Bescheidenheit" hat Ayşe Çavdar ihre Doktorarbeit genannt. Weil sie daran zweifelt, dass dieser Erdoğanismus überhaupt noch etwas mit tief empfundener Religion zu tun hat. Der Islam ist vom Wesen her eine bescheidene Religion. Reichtum ist nicht wichtig. Aber in Başakşehir hat sie genau das Gegenteil erlebt. "Was hat dieser Islam noch mit dem traditionellen Islam zu tun?" Die Antwort gibt sie selbst. "Er dient doch nur Erdoğan."

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