Vor der Stichwahl in der Türkei:Warum die Rechten die Wahl in der Türkei entscheiden

Vor der Stichwahl in der Türkei: Siegesgewiss: Anhänger des türkischen Präsidenten Erdogan jubeln vor dem Sitz seiner Partei AKP in Istanbul.

Siegesgewiss: Anhänger des türkischen Präsidenten Erdogan jubeln vor dem Sitz seiner Partei AKP in Istanbul.

(Foto: Khalil Hamra/dpa)

Die Türkei hat einen Rechtsruck erlebt. Vor der Stichwahl umwirbt Herausforderer Kılıçdaroğlu jetzt die Nationalisten - sie sind die Königsmacher im Land. Deren Erfolg ist auch das Werk des amtierenden Präsidenten Erdoğan.

Von Raphael Geiger, Istanbul

Kemal Kılıçdaroğlu will nicht mehr so nett sein. Er hat Schärfe angekündigt für diese letzten Tage vor der türkischen Stichwahl am 28. Mai. Und so klingt er jetzt auch: "Erdoğan", rief er vergangene Woche, "warst du es nicht, der mit den Terroristen an einem Tisch saß?" Gemeint war Fethullah Gülen, früher Erdoğans Verbündeter, inzwischen wegen des Putschversuchs 2016 der Staatsfeind Nummer eins.

Der neue Kılıçdaroğlu ist lauter, aggressiver. Er haut auf den Tisch, wobei man ihm dabei anmerkt, dass die Idee dazu wohl eher von seinem Team kam als von ihm selbst. Kılıçdaroğlu ist jetzt vor allem: rechter. Sämtliche Syrer und Afghanen werde man zurückschicken, das versprach er früher schon - jetzt ist es der wichtigste Punkt seines Wahlkampfs.

Und der Punkt, der ihm regelmäßig den lautesten Applaus einbringt. So verstieg er sich kürzlich zu der Aussage, man werde all die aus dem Land werfen, "die in unsere Adern eindringen". Es ist die Sprache der türkischen Nationalisten, der Rechtsradikalen. So reden die Grauen Wölfe.

"Ein populistisch-nationalistisches Regime" habe die Türkei im Griff, sagt der Politologe

Kılıçdaroğlu weiß, dass er nur mit deren Hilfe noch zum Präsidenten gewählt werden kann. Seine Chance ist klein, aber wenn, dann findet er sie am rechten Rand. Der dritte Kandidat Sinan Oğan, in der Vorrunde ausgeschieden, ist strikter Nationalist. Dass er mit fünf Prozent besser abschnitt als erwartet, dürfte daran gelegen haben, dass seine Anhänger zwar für die Opposition stimmen wollten - ihnen Kılıçdaroğlu aber zu links und zu kurdenfreundlich war.

Die Stimmen dieser rechten Wählerinnen und Wähler entscheiden nun über den nächsten türkischen Präsidenten. Nicht die Kurden sind mehr die Königsmacher, sondern die Feinde der Kurden vom rechten Rand. Von einer "Hegemonie der Nationalisten" spricht Nezih Onur Kuru, Politologe von der Istanbuler Koç-Universität. Fast könne man es "ein populistisch-nationalistisches Regime" nennen, das die Türkei im Griff habe. Die rechte Ideologie ist tief in die Gesellschaft eingedrungen.

Und das, obwohl die Nationalisten nicht vereint auftreten. Gerade das macht ihren Erfolg aus. Das Original, die alte MHP, die Partei der Grauen Wölfe, koaliert mit Erdoğan. Der Präsident verdankt ihr die Mehrheit im Parlament. Die IYI-Partei, eine Abspaltung der MHP, gehört zum Oppositionsbündnis. Ohne sie hätte Kemal Kılıçdaroğlu nicht mal die kleine Chance, die ihm noch bleibt. Dazu kommt der dritte nationalistische Block hinter Sinan Oğan.

Es ist der Triumph einer Strömung, die längst am Abklingen war

Die Nationalisten also sind auf allen Seiten vertreten. Sie sind auf keiner Seite in der Mehrheit. Aber niemand sonst hat eine Mehrheit ohne sie. Weshalb sich Kılıçdaroğlu am Freitag auch mit einem Vertrauten Oğans traf und um dessen Unterstützung warb. Zwischen Oğan und Kılıçdaroğlu gebe es keine politischen Unterschiede - das sagte der Oberbürgermeister von Istanbul, Ekrem Imamoglu. Einer, der weiß, wie man Wahlen gewinnt.

Es ist der Triumph einer politischen Strömung, die in den frühen Erdoğan-Jahren am Abklingen war. Die Grauen Wölfe mit ihrem faschistischen Gedankengut stammen aus den 70er-Jahren. Als Erdoğan an die Macht kam, gehörten sie zu seinen Gegnern. Erdoğan nämlich suchte den Frieden mit den Kurden. Die, oft fromm, zählten zu seinen treuesten Wählern.

In den Zeitungsarchiven findet man Sätze wie aus einer anderen Zeit: Erdoğan gehe auf die Kurden zu, steht da. Oder: Die türkische Regierung halte am Friedensprozess fest. Erdoğan wolle ehemaligen PKK-Kämpfern einen Weg in die Gesellschaft ermöglichen - der inhaftierte PKK-Chef Öcalan nenne Erdoğans Initiative "historisch".

Die Sätze sind keine zehn Jahre alt. Recep Tayyip Erdoğan, der Freund der Kurden: Er brach das Tabu und sprach erstmals von einem "Kurdenproblem", zuvor hatte der türkische Staat bestritten, dass es überhaupt eine kurdische Ethnie gibt. Erst Erdoğan erlaubte die kurdische Sprache in der Politik, ließ reichlich Steuergelder in kurdische Regionen fließen.

Erdoğan tauchte ab, um nachzudenken - und änderte dann seinen Kurs

"Der Wendepunkt war 2015", sagt der Politologe Kuru. Die pro-kurdische HDP zog ins Parlament ein, mit 13 Prozent der Stimmen, Erdoğans AKP verlor zum ersten Mal die Mehrheit. Der Präsident tauchte für ein paar Tage ab. Offenbar brauchte Erdoğan Zeit zum Nachdenken. Im Ergebnis dieses Nachdenkens lebt die Türkei bis heute: Erdoğan sah, dass er mit den Kurden nicht mehr gewinnen konnte - mit den Nationalisten schon.

Erdoğan habe ihnen "den Weg geebnet", sagt Kuru. Und die Nationalisten ihm. "Die Normen in der Gesellschaft haben sich seitdem verändert, es ist wieder schwerer, mit den Kurden zu sprechen. Sofort ist von Terroristen die Rede." So erging es Kılıçdaroğlu, als er sich vor den Wahlen mit den Parteichefs der HDP zeigte. Die riefen schließlich zu seiner Wahl auf. Auch der 2018 gescheiterte Präsidentschaftskandidat Muharrem Ince traf sich damals mit den Kurden, der Aufschrei blieb aus.

Erdoğan hat es geschafft, dass jeder Handschlag mit einem HDP-Vertreter einem politischen Todesurteil gleichkommt. "Das Volk hat das verinnerlicht", so Kuru. Der Präsident wies in jeder einzelnen Rede darauf hin: Kılıçdaroğlu, so der Präsident, sei ein Kandidat in der Schuld der Terroristen. Sie seien es, die auf Kılıçdaroğlus Sieg am meisten hofften. Nationalistischen Türken, sagt Kuru, habe Kılıçdaroğlus Bündnis mit den Kurden "das Herz gebrochen".

Das mag dramatisch formuliert sein, aber so ist Politik in der Türkei noch immer: eine Frage der Identität. Erdoğan hat die Gesellschaft so geformt, dass sie ihm Wahlsiege schenkt. Fortschritte wie im Umgang mit den Kurden, die er selber mal herbeigeführt hat, opferte er dafür. Er sah, dass nichts im Land so mehrheitsfähig ist wie ein harter Kurs gegen die kurdische Minderheit. Wobei Erdoğan unterscheidet zwischen "den kurdischen Brüdern und Schwestern", den Konservativen, die ihn wählen - und allen anderen, die in seiner Rhetorik eigentlich nur noch "Terroristen" heißen.

Kemal Kılıçdaroğlu glaubte, er könne die von Erdoğan festgelegten Fronten durchbrechen. Er dachte, ihn würden türkische Nationalisten und Kurden gleichermaßen wählen - weil sie Erdoğan als Präsidenten loswerden wollen. Damit kam er immerhin auf 45 Prozent. Erdoğan muss nun zum ersten Mal in die Stichwahl.

Was am 28. Mai passiert? Bei den Stimmen der Nationalisten, sagt der Politologe Kuru, sei "Erdoğan wettbewerbsfähiger". Die türkische Politik ist immer noch das Schachbrett, das Recep Tayyip Erdoğan entworfen hat.

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