Türkei:Erdoğan ließ den IS lange gewähren

Recep Tayyip Erdogan

Lange hat der türkische Präsident Erdoğan den Kampf gegen den IS halbherzig betrieben.

(Foto: AP)
  • Die Türkei hat lange gebraucht, um die Gefahr durch den IS zu erkennen.
  • Sie hat den Kampf gegen die Terrororganisation nicht nur bloß halbherzig unterstützt, sondern auch hintertrieben.
  • Erst ein Attentat durch einen IS-Kämpfer veränderte das.

Von Mike Szymanski

Die Türkei musste erst Blut sehen, um die Gefährlichkeit des IS-Terrors zu erkennen. Viel Blut, und das in ihrem Land. Lange waren die Fanatiker für den heutigen türkischen Premierminister Ahmet Davutoğlu nur "wütende, unzufriedene Menschen", Gläubige, die nur das richtige Maß verloren hatten. So sagte er das im Sommer 2014 noch.

Was religiöse Eiferer anging, zeigten sich Davutoğlu und Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan erstaunlich lange verständnisvoll. Sie selbst führten Wahlkampf mit dem Koran in der Hand. Die AKP ist eine islamisch-konservative Partei. Als sie 2002 in der Türkei an die Macht kam, gab sie sich eher konservativ. Heute eher: islamisch.

Die echten Terroristen waren für die Türkei lange die Kurden

Wirkliche Terroristen, das waren für den türkischen Staat - trotz zwischenzeitlicher Friedensbemühungen - andere: Die Separatisten der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK und deren Sympathisanten. Kurdenkonflikt heißt das seit 1984 institutionalisierte Blutvergießen. 40 000 Menschen sind seither gestorben.

Die Rolle der Türkei im Kampf gegen den IS kann man ohne den Kurdenkonflikt nicht verstehen. Das Schlüsseldatum ist der 20. Juli 2015. An diesem Tag hat sich im türkisch-syrischen Grenzort Suruç Şeyh Abdurrahman Alagöz inmitten einer Gruppe von jungen Leuten in die Luft gesprengt, die helfen wollten Kobanê aufzubauen. Jene Stadt, die kurdische Kämpfer in Syrien dem IS vor Monaten wieder abgetrotzt hatten.

Ein Attentat veränderte alles

33 Menschen riss der 20-Jährige mit sich in den Tod. Şeyh Abdurrahman Alagöz war ein Kind der Türkei. Er wurde in seinem türkischen Heimatdorf radikalisiert und in Syrien beim IS ausgebildet. Und er kam zurück, um sein Land in den Strudel der Gewalt hineinzuziehen. Der vorläufige Höhepunkt: Am 10. Oktober, kurz nach 10 Uhr, sprengten sich am Hauptbahnhof in Ankara zwei Selbstmordattentäter in Luft. Diesmal starben 102 Menschen.

Suruç veränderte die Rolle die Türkei. Sie konnte nicht mehr so tun, als ob der IS-Terror dieses Land nichts angehe. Die Terrorzellen waren mitten in der Türkei. Zurückhaltende Berichte gehen von 1000 IS-Anhängern im Land aus. Türkische Medien berichten unter Berufung auf Geheimdokumente von 4300. Die Türkei hatte den IS viel zu lange blühen lassen.

Erdoğan wollte unbedingt das Assad-Regime stürzen - wegen einer Kränkung

Erdoğan hatte schon in seiner Zeit als Premierminister im Nachbarland Syrien andere Ziele verfolgt. Er will das Assad-Regime stürzen. Die Islamisten waren keine Gefahr für ihn, sondern Instrument, um diesem Ziel näherzukommen.

Erdoğans Furor speiste sich aus einer tiefen Kränkung. An Syrien wollte die Türkei der Welt ihre neue Rolle als Regionalmacht demonstrieren. In Erdoğans Neo-Osmanismus sollte Syrien das Tor zur arabischen Welt werden. Aber Baschar al-Assad machte nicht mit. Er setzte auf Gewalt anstatt auf Reformen. Assad stürzte Syrien in den Bürgerkrieg.

Erdoğan war wie besessen davon, Assad loszuwerden

Erdoğans Pläne blieben eine Vision. Er war bald wie besessen davon, das Assad-Regime loszuwerden. Deshalb machte er sich im Nachbarland auch die gefährlichen Kräfte zu Verbündeten, solange sie gegen Assad waren.

Auch in Syrien leitet der Kurdenkonflikt die türkische Politik. In dem Maße, wie Syrien zerfällt, erwachsen aus Erdoğans Sicht neue Gefahren. Jenseits der türkischen Grenze haben die Kurden bei ihrem Kampf gegen den IS immer größere Gebiete unter ihrer Kontrolle gemacht. Was er auf türkischem Boden verhindern konnte, wird in Nordsyrien Wirklichkeit: autonome Kurdengebiete. Die Angst davor, dass dieses Autonomiestreben auch in die Türkei hinüberschwappt, macht die Türkei für die Anti-IS-Allianz zu einem so komplizierten Partner.

Für Europa sind die Peschmerga Helfer, für die Türkei eine Bedrohung

Am Boden kann man sich eigentlich keine besseren Kämpfer gegen den IS als die entschlossenen Kurden wünschen. Die Amerikaner und Europa arbeiten mit ihnen eng zusammen. Die Türken aber sehen eine Bedrohung in diesen Truppen.

Als die kurdischen Peschmerga Kobanê zurückeroberten, wollte die Türkei kurdische Kämpfer zur Unterstützung nicht über ihre Grenze lassen. "Im Norden Syriens werden wir niemals die Gründung eines neuen Staates erlauben", drohte Erdoğan in diesem Sommer. Wenn die Türken von ihren Partnern eine 100 Kilometer lange Schutzzone jenseits der Grenze einfordern, dann zuvorderst aus Eigennutz - sie soll weiteren Geländegewinnen der Kurden vorbeugen.

So lähmt die türkische Verbohrtheit den gesamten Anti-Terror-Kampf

Suruç gab Ankara auch den Anlass, gegen die Kurden im eigenen Land vorzugehen. Kurz nach dem Attentat hatte ein Kommando der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK zwei türkische Polizisten hingerichtet, weil sie angeblich mit dem IS unter einer Decke steckten. So locker saß der Finger am Abzug, obwohl PKK und Regierung sich bis dahin seit zwei Jahren an einen Waffenstillstand gehalten hatten. Politisch waren die Kurden mächtig geworden. Ihr parlamentarischer Arm, die pro-kurdische Partei HDP, hatte es bei der Wahl am 7. Juni mit 13 Prozent ins Parlament geschafft. Aber von einem Tag auf dem anderen regierte wieder die Gewalt.

Und die PKK lieferte Erdoğan mit ihrem Tötungskommando einen willkommenen Anlass, den soeben begonnenen Anti-Terror-Kampf auch auf die PKK auszudehnen. Mit Stand Oktober flog die türkische Luftwaffe nach Informationen der Bundesregierung nur fünf Angriffswellen gegen Ziele des IS und 22 Angriffswellen gegen die Kurden. Das zeigt, wo die Prioritäten der Türken wirklich liegen.

Wie Ankara den Kampf gegen den IS untergrub

Ankara hat die internationale Allianz gegen den IS lange nicht nur halbherzig unterstützt, sondern deren Kampf auch hintertrieben. Für Terrorkämpfer blieb die 900 Kilometer lange Grenze zu Syrien durchlässig. Verletzte IS-Fanatiker sollen auf türkischer Seite in den Krankenhäusern behandelt worden seien. Bis heute konnte die Regierung den Verdacht nicht ausräumen, die Islamisten im Nachbarland mit Waffenlieferungen versorgt zu haben. Journalisten, die darüber berichtet haben, wurden wegen des Spionageverdachts in der vergangenen Woche ins Gefängnis gesteckt. Wenn überhaupt mal so etwas wie eine Erklärung von Seiten des Staates kommt, dann heißt es, man unterstütze die Milizen der syrischen Turkmenen mit "Hilfsgütern".

Dieser Volksgruppe im Norden des Landes fühlt sich Ankara wegen der kulturellen und sprachlichen Nähe besondern verbunden. Erdoğan begreift sein Land als Schutzmacht für die geschätzt 200 000 Angehörigen dieser Minderheit. Die syrischen Turkmenen sind von türkischen Elite-Einheiten ausgebildet worden. Und es eint sie der Hass auf Assad.

Seitdem die Russen in Syrien kämpfen, ist alles unübersichtlicher geworden

Dieser Hass ist es, der Türken und Russen trennt. Seitdem sich die Russen mit Luftangriffen in den Krieg in Syrien eingeschaltet haben, ist die Lage nur noch unübersichtlicher geworden. So wenig wie die Türken mit Überzeugung gegen den IS in Syrien vorgehen, tun dies dort die Russen. Auch sie verfolgen ihre eigene Agenda.

Den Russen geht es weniger darum, das Regime zu schützen als sich vielmehr eine gute Ausgangsposition für die Zeit nach Assad zu sichern, wenn die Macht neu verteilt wird. Als die Türken am 24. November einen russischen SU-24-Bomber vom Himmel schossen, wurde das ganze Dilemma gegensätzlicher Interessen sichtbar.

Für den Westen ist die Türkei als Partner unverzichtbar

Das Verhältnis zwischen den beiden Machtmenschen Erdoğan und Wladimir Putin ist zerrüttet. Der russische Staatspräsident wirft den Türken vor, IS-Terrorhelfer zu sein. Regierungsmitglieder behaupten, Erdoğan und seine Familie seien persönlich in Ölgeschäfte mit dem IS verstrickt. Wer einmal miterlebt hat, wie Erdoğan im eigenen Land gegen Kritiker vorgeht, ahnt: Das wird Erdoğan nicht vergessen. An der Grenze zu Syrien patroulieren jetzt 18 F-16-Kampfjets. So viele wie noch nie seit Ausbruch des Bürgerkriegs. Aber nicht aus Angst vor Assad oder dem IS. Sondern wegen der Russen.

Die Türkei ist als strategischer Partner für den Westen kaum verzichtbar. Nach Suruç hat das Nato-Land den USA einen dringenden Wunsch erfüllt: Sie können den türkischen Luftwaffenstützpunkt Incirlik für Angriffe auf den IS nutzen. Die Militärbasis liegt nur gut 100 Kilometer von der syrischen Grenze entfernt. Von dort aus können nicht nur Kampfjets schnell eingesetzt werden, sondern auch Kampfhubschrauber. Bis in den Nordirak ist es auch nicht weit. Die deutsche Luftwaffe will ihre Aufklärungsflugzeuge ebenfalls dort stationieren. Incirlik, seit den 50er Jahren von den USA benutzt, wird zu einem der wichtigsten Stützpunkte im Kampf gegen den IS. Ob die Türkei nun will oder nicht. Sie steckt mitten drin im Kampf gegen den IS.

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