Der Mann, der früher nicht mal zugeben wollte, dass es eine kurdische Ethnie gibt, sprach auf einmal von Liebe. „Türken und Kurden müssen einander lieben“, sagte Devlet Bahçeli, Chef der rechtsradikalen MHP, eine religiöse Pflicht sei das und auch eine politische. Vorher hatte er sich im Parlament dabei sehen lassen, wie er kurdischen Abgeordneten die Hand gab.
Bahçeli ist 76 Jahre alt, er hat sein Leben zu großen Teilen damit verbracht, alles Kurdische zu verdammen, ihre Sprache, ihren Wunsch nach Selbstbestimmung, selbst ihre Existenz. Das seien doch nur Bergtürken, hieß es aus seiner Partei. So dachten in der Türkei lange Zeit viele über die kurdische Minderheit.
Als sich Präsident Erdoğan zum ersten Mal mit den Kurden aussöhnen wollte, ein Jahrzehnt ist es her, war Bahçeli noch in der Opposition. Und ein entschiedener Gegner der Aussöhnung. Die scheiterte dann 2015 tatsächlich, seitdem war wieder Krieg zwischen der türkischen Armee und der kurdischen PKK-Miliz, erst in den Städten im Südosten der Türkei, heute hauptsächlich im Nordirak, wohin sich die PKK zurückgezogen hat. Vor allem die türkischen Drohnen haben den Kämpfern schwer zu schaffen gemacht.
Vom Kurdenhasser zum Botschafter des Friedens?
Bahçeli, der Ultranationalist und eigentliche Kurdenhasser, ist heute längst nicht mehr in der Opposition. Er stützt mit seiner MHP die Regierung, er ist so etwas wie Recep Tayyip Erdoğans Koalitionspartner. Und auf einmal ein Botschafter des Friedens?
Willkommen in der türkischen Politik, in der die sicherste Vorhersage immer die ist, dass alles passieren kann. Erdoğan riet seinen „kurdischen Brüdern“ gleich, sie sollten Bahçelis „ausgestreckte Hand fest ergreifen“. Der ging noch weiter und sprach eine Einladung aus, gerichtet an Abdullah Öcalan, den seit 1999 inhaftierten Gründervater der PKK. Öcalan sollte ins Parlament nach Ankara kommen, schlug Bahçeli vor, und dort die Entwaffnung der PKK verkünden. Dann könne man über alles reden.
So friedlich klang die türkische Regierung schon lange nicht mehr. Trotz des PKK-Anschlags auf einen Rüstungskonzern nahe Ankara sehe er „eine historische Gelegenheit“, sagte Erdoğan. Der war, was die kurdische Minderheit betrifft, immer weniger vorbelastet als seine nationalistischen Freunde. Viele Kurdinnen und Kurden sind fromm und konservativ, ganz anders als die sozialistische PKK; sie gehörten zu Erdoğans treusten Wählern. Mit den Nationalisten um Bahçeli hat sich der Präsident erst später verbündet, als er sah, dass sich mit einem harten Kurs in der Kurdenfrage in der Türkei Mehrheiten gewinnen ließen.
Erdoğan muss sich dringend neue Mehrheiten suchen
Jetzt sortiert sich die türkische Politik neu. Die Hauptrolle hat Erdoğan selbst übernommen, der Mann, der in der Türkei gern noch eine Weile regieren würde. Vor einem halben Jahr, im März, verlor Erdoğans Partei die Kommunalwahlen so klar, dass er selbst versprach, es würde sich etwas verändern. Die Wirtschaft kommt nicht aus ihrer Dauerkrise, die Inflation ist noch immer deutlich zweistellig. Erdoğan weiß, dass er sich für künftige Wahlsiege neue Mehrheiten suchen muss.
Fürs Erste benötigt er eine Mehrheit schon dafür, dass er noch einmal antreten darf. Eigentlich erlaubt ihm die Verfassung keine weitere Amtszeit, es sei denn, es gibt Neuwahlen, wofür er Teile der Opposition gewinnen müsste – er bräuchte die Zustimmung von 60 Prozent der Abgeordneten, auf die kommt seine Koalition nicht.
Seit einer Weile spricht Erdoğan außerdem davon, dass das Land ohnehin eine neue Verfassung nötig habe. In Klammern: Möglicherweise würde die dem Präsidenten eine weitere Kandidatur zugestehen. Allerdings ist auch das nicht ohne die Opposition zu machen, entweder nämlich mit einer Zweidrittelmehrheit im Parlament oder der Zustimmung von 60 Prozent in Verbindung mit einer Volksabstimmung.
Erdoğans politische Kunst war es immer schon, seine Gegner gegeneinander auszuspielen, und er weiß, dass die Kommunalwahlen zwar einerseits wegen der Wirtschaft verloren gingen, aber auch, weil in den Städten eine Koalition gegen ihn entstanden ist: aus den säkularen Wählern der CHP, der größten Oppositionspartei, und den Kurden. Das Bündnis sicherte Ekrem İmamoğlu, dem Oberbürgermeister von Istanbul, die Wiederwahl.
Der Präsident möchte eine „sanftere“ Politik und setzt zugleich auf Härte
Seither hat Erdoğan ein paar Versuche gestartet. Er hat der CHP einen Normalisierungsprozess angeboten, sogar deren Zentrale besucht, die Politik solle „sanfter“ werde, verkündete der Präsident. Andererseits ließ er kürzlich den Bürgermeister eines Istanbuler Bezirks verhaften. Er sei Mitglied der PKK, hieß es; der Mann gehört zur CHP.
Viele in der Türkei sahen das als Warnsignal an İmamoğlu, der aus seinen Ambitionen auf die Präsidentschaft kein Geheimnis macht. Erdoğan könnte, zumindest in der Theorie, auch İmamoğlu juristisch kaltstellen. Ein Urteil gegen ihn liegt vor, es könnte jederzeit rechtskräftig werden. Gut möglich, dass Erdoğan mit der Verhaftung des Bezirksbürgermeisters testen wollte, wie die Öffentlichkeit auf einen solchen Schritt reagiert.
Und die Kurden? Auch bei ihnen versucht es Erdoğan mit einer Mischung aus netterer Sprache und Härte: Auch im mehrheitlich kurdischen Südosten hat die Regierung drei gewählten Bürgermeistern das Amt entzogen.
Viele Türken glauben, dass Erdoğan die kurdische Bewegung spalten will
Und während Devlet Bahçeli dem inhaftierten Öcalan die Freiheit anbot, ist im Fall von Selahattin Demirtaş keine Rede von Freilassung. In Demirtaş, dem früheren Vorsitzenden der HDP, der heutigen DEM-Partei, sah Erdoğan einen Politiker, der ihm hätte gefährlich werden können. Demirtaş, ein Kurde, sprach auch liberale, nicht kurdische Milieus an. Seit 2016 sitzt er im Gefängnis.
Viele in der Türkei glauben, dass Erdoğan die kurdische Bewegung spalten will: in jene, die des Kämpfens müde sind und auf das Angebot der Regierung eingehen wollen, und solche, die misstrauisch bleiben – jedenfalls so lange, wie Demirtaş und viele andere in ihren Zellen sitzen. Erdoğan könnte es dann so darstellen, als würde der letztere Flügel – in seiner Sprache: die Terroristen – mit der CHP gemeinsame Sache machen. Während er, der Präsident, mit den Vernünftigen einen Frieden vereinbart: Seht, der Kampf ist vorbei, lasst uns nach vorn schauen.
Es wäre die „Krönung“ seiner Laufbahn, sagte Erdoğan, würde es gelingen, den ewigen Konflikt mit der PKK zu beenden. Und nebenher, scheint er zu hoffen, müsste seine Laufbahn damit noch nicht zu Ende sein.