Süddeutsche Zeitung

Bürgermeisterwahl in Istanbul:"Erdoğan würde die Niederlage als Zeichen für die Demokratie verkaufen"

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Der Politikwissenschaftler Ludwig Schulz spricht über die Istanbuler Kandidaten, das zweifelhafte Verhalten der Wahlbehörde und die Bedeutung der "Schicksalswahl" für die ganze Türkei.

Interview von Zita Zengerling

25 Jahre lang haben die AKP und ihre Vorgängerpartei in Istanbul regiert, bis sich bei den Bürgermeisterwahlen im März der Oppositionsvertreter Ekrem İmamoğlu gegen Binali Yıldırım durchsetzte. İmamoğlu feierte seinen Sieg, doch die AKP von Präsident Recep Tayyip Erdoğan legte Einspruch ein. Als İmamoğlu bereits offiziell ins Amt eingeführt worden war, entschied der Wahlausschuss: Die Wahl muss wiederholt werden.

Ludwig Schulz ist Politikwissenschaftler an der Ludwig-Maximilians-Universität München und hat die Türkei als Forschungsschwerpunkt. Er erklärt, worin sich die beiden Kandidaten unterscheiden und warum er nicht glaubt, dass die AKP das Ergebnis bei einer neuerlichen Wahlniederlage am Sonntag ein zweites Mal anfechten würde.

Welche Rolle spielen die Bürgermeisterwahlen in Istanbul für die Türkei?

Die Nachwahlen in Istanbul sind wieder einmal Schicksalswahlen für das Land. Es geht um die große Frage, die in der Türkei immer präsent ist: Wie stark sind die Kräfte der säkularen, republikanischen Opposition im Gegensatz zu den religiös-konservativen von Präsident Recep Tayyip Erdoğan? Dabei spielen die Kurden freilich auch noch eine wichtige Rolle. Dieser Machtkampf wird in Istanbul besonders geführt, weil die Stadt als Schmelztiegel gilt: Hier finden sich alle Bevölkerungsgruppen des Landes wieder.

Umfragen zufolge soll es ein erneutes Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Yıldırım und İmamoğlu geben, der für die säkulare CHP antritt. Was macht die beiden Kandidaten aus?

Sie unterscheiden sich vor allem durch ihr Alter, ihr äußeres Erscheinungsbild und ihre politische Identität. Ekrem İmamoğlu ist mit seinen 49 Jahren ein relativ junger dynamischer Politiker der Republikanischen Volkspartei CHP. Er ist ein unbeschriebenes Blatt, hat aber im Wahlkampf bewiesen, dass er auch Profil zeigen kann. Der 63-jährige Binali Yıldırım dagegen ist ein alter Weggefährte Erdoğans und ehemaliger Ministerpräsident. Sein Gesicht kennt man im ganzen Land, genau wie seine Art zu sprechen, die nicht unbedingt auf großes rhetorisches Talent hinweist, aber auf viele im Land sehr authentisch wirkt. Yıldırım steht natürlich für die islamisch-konservativ Politik der AKP und Erdoğans. Wenn er gewählt wird, wird über die Politik in Istanbul direkt aus dem Präsidentenpalast in Ankara entschieden.

Derzeit soll Oppositionskandidat İmamoğlu vorne liegen, der bereits die erste annullierte Wahl knapp für sich entschied. Zuvor hatten 25 Jahre lang die AKP und ihre Vorgängerpartei die Stadt regiert. Woher kommt dieser Wandel?

Die CHP hat mit İmamoğlu einen Kandidaten aufgestellt, der neben der säkularen auch eine konservative Wählerschaft anspricht. Damit kommt er selbst für AKP-Sympathisanten in Frage, die etwa mit Erdoğans Wirtschaftspolitik nicht mehr einverstanden sind. Istanbul ist das Wirtschaftszentrum der Türkei. Und wenn es der türkischen Wirtschaft schlecht geht, bedeutet das für die Regierung starken Gegenwind und Aufwind für die alternativen Programme der Opposition. Das ist aktuell der Fall: Die Inflation liegt bei etwa 20 Prozent, die Arbeitslosigkeit ist ebenso enorm, ausländische Investoren verlieren das Vertrauen in den Standort Türkei. Für İmamoğlu spricht zudem, dass andere Oppositionsparteien, darunter auch die kurdisch geprägten, auf eigene Kandidaten verzichten und ihm Unterstützung zugesagt haben.

Der Hohe Wahlausschuss hat die ursprüngliche Bürgermeisterwahl im März nach einer Beschwerde der AKP annulliert. Wie bewerten Sie diese Entscheidung?

Die oberste Wahlbehörde hat ihr Urteil zur Wiederholung der Wahl äußerst zweifelhaft begründet. Es hieß unter anderem, dass die Zusammensetzung der Zählkommissionen "nicht ordnungsgemäß" gewesen sei. Die Opposition hatte daraufhin etwa eingewendet, dass die gleiche Zusammensetzung bei früheren Wahlen nie bemängelt worden war.

Wurde der Wahlausschuss also womöglich von der Regierungspartei beeinflusst, nachdem Yıldırım die Wahl knapp verloren hatte?

Wichtige Institutionen, wie neben der obersten Wahlbehörde auch zum Beispiel einige der obersten Gerichte des Landes, haben besonders in den letzten zwei Jahren immer wieder so gehandelt, dass ihre Unabhängigkeit angezweifelt werden konnte. Nach der Kommunalwahl im März hat sich die Wahlbehörde eine Woche Zeit genommen, die Wahlen von Istanbul zu untersuchen. Aber erst viel später, als der neue Bürgermeister der CHP bereits im Amt war, entschied sie sich für die Annullierung. Das hat dem Ruf dieser Institution extrem geschadet.

Glauben Sie, die AKP wird das Ergebnis wieder anfechten, sollte sie am Sonntag erneut verlieren?

Ich glaube nicht. Damit würde sie zu viel Glaubwürdigkeit verlieren, vom internationalen Aufschrei ganz zu schweigen. Erdoğan würde die Niederlage nach außen als Zeichen für die Demokratie in der Türkei verkaufen, nach innen aber seinen politischen Kurs fortsetzen.

Am Sonntag vor der Wahl haben sich die beiden Bürgermeisterkandidaten ein TV-Duell geliefert. Darauf hatten sich Politiker der AKP seit 2002 nicht eingelassen. Warum jetzt?

Nach ihrer Niederlage im März hat die AKP die Taktik geändert: Stand zuvor noch Präsident Erdoğan im Mittelpunkt der Wahlkampagne, hielt er sich jetzt extrem zurück. Yıldırım als Bürgermeisterkandidat wurde in den Vordergrund geschoben. Man will ein anderes, gleichwohl bekanntes Gesicht zeigen und hat deswegen auch zu dem TV-Duell eingewilligt. Außer, dass Yıldırım stellenweise eine schlechte Figur machte, uninformiert war, verlief das Duell aber relativ unspektakulär.

Spricht daraus womöglich die Angst vor einem Machtverlust der AKP im ganzen Land?

Ich denke, dass das Ergebnis dieser Wahlen mittelfristig keinen großen Unterschied für die nationale Politik machen wird. Es ist davon auszugehen, dass Präsident Erdoğan seine Politik der Polarisierung und eines islamisch-nationalistischen Autoritarismus fortsetzen wird. Das ist sein Stil, um seine Anhänger zu mobilisieren, und seine Agenda, mit der er jetzt bis zu den nächsten regulären Wahlen 2023 regieren kann - wenn die Wirtschaftsentwicklung sowie die Machtnetzwerke, die er bedienen muss, mitspielen.

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