Türkei:Erdoğan ist taub für jede Kritik
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Die internationale Empörung ist dem türkischen Präsidenten egal. Er kann schalten und walten, Europa ist weitgehend machtlos.
Kommentar von Luisa Seeling
Nach dem Schrecken über die Verhaftung von gut einem Dutzend Cumhuriyet-Redakteuren gibt es Streit darüber, wer am angemessensten auf diesen Schlag gegen die Pressefreiheit reagiert hat. Das geht am Problem vorbei. Denn an der türkischen Regierung perlt in diesen Tagen jede Reaktion aus dem Ausland ab - zumindest, wenn sie den Hauch eines kritischen Tons enthält.
Beispiel Cumhuriyet: Die erste Antwort der Bundesregierung auf die Verhaftungswelle war ein "Wir sind besorgt"-Allerweltssatz, am Mittwoch legte sie nach, die Vorgänge seien "in höchstem Maße alarmierend". Beides wird Ankara wenig beeindrucken. EU-Parlamentschef Martin Schulz sprach von einer überschrittenen roten Linie - prompt ließ ihn der türkische Regierungschef Binali Yıldırım wissen, seine Linie interessiere niemanden. Leider stimmt das: Die internationale Empörung ist der türkischen Regierung egal - sonst würde sie sich kaum eine im Ausland so bekannte Oppositionszeitung vorknöpfen.
Ähnlich ist es mit der Diskussion um die Wiedereinführung der Todesstrafe, die nach dem Putschversuch im Juli aufkam. Kaum ein europäischer Politiker, der nicht darauf hinwies, dass dies ein nicht hinnehmbarer Schritt wäre, der zum Ausschluss der Türkei aus dem Europarat und zum Ende des EU-Beitrittsprozesses führen würde. Allein, es nützt nichts: Präsident Recep Tayyip Erdoğan treibt das Projekt voran. Ein entsprechender Entwurf könnte bald ins Parlament eingebracht werden, damit kommt die Türkei einer Rückkehr zur Todesstrafe gefährlich nahe.
Angst hilft Erdoğan, aber auch die weiter breite Anhängerschaft
Im Grunde steht das Land da, wo es im vergangenen Jahr schon mal stand, nur unter verschärften Vorzeichen. Damals war die Einführung des Präsidialsystems Erdoğans oberstes Ziel, doch er musste die Regeln der Demokratie einhalten, ein bisschen wenigstens. Heute herrscht der Ausnahmezustand, erst mal bis Januar, womöglich länger. Erdoğan kann den Umbau des Staates per Dekret vorantreiben. Er kann einschüchtern und festnehmen, entlassen und Posten mit Getreuen besetzen lassen. Dass es gegen Erdoğans Ermächtigung keinen Volksaufstand gibt, hat viele Gründe. Vor allem Angst. Wer die Regierung kritisiert, macht sich verdächtig, zum Lager der Putschisten und Terroristen zu gehören. Auch sind viele Menschen zwar gegen die AKP, halten die Gülen-Bewegung aber für noch gefährlicher - und finden die Entlassungen deshalb nicht ganz falsch. Und natürlich folgt Erdoğan noch immer eine breite Anhängerschaft.
Der Präsident kann also schalten und walten, Europa sieht weitgehend machtlos zu. Klassisches "Naming and Shaming", öffentliches Anprangern von Rechtsverletzungen, entfaltet keine Kraft mehr. Um wirkungsvollere Wege zu finden, Druck auf Ankara auszuüben, müsste sich Europa zweierlei eingestehen: Der EU-Beitrittsprozess ist kein Hebel, mit dem sich das Geschehen in der Türkei beeinflussen lässt. Und dass Erdoğan das Präsidialsystem um jeden Preis will. Dem ordnet er alles unter - auch die Beziehungen zu Europa.