Süddeutsche Zeitung

Türkei:Erdoğan ist ein kümmerlicher Sieger

Der türkische Präsident mag der Gewinner dieses Wahltages sein. Doch es ist ein Sieg, der ihn viel gekostet hat - und ihn noch viel kosten wird.

Kommentar von Luisa Seeling

Wie es aussieht, hat sich die Mehrheit der Wähler für die Einführung eines Präsidialsystems in der Türkei ausgesprochen. Das Ergebnis ist äußerst knapp ausgefallen, und man darf annehmen, dass der türkische Präsident gestern Abend sehr erleichtert war - und enttäuscht. Recep Tayyip Erdoğan hat alles auf eine Karte gesetzt, er hat alle Register gezogen, und am Ende wäre die Sache doch fast noch schiefgegangen. So viel Polemik gegen Europa, so viel Denunziation seiner innertürkischen Gegner, all die Repression und Manipulation der Öffentlichkeit - und dann nur ein paar Stimmen mehr als unbedingt nötig. Erdoğan ist ein kümmerlicher Sieger. Ob er das weiß?

Wie frei und fair die Abstimmung selbst war, wird sich herausstellen, wenn die wahlbeobachtenden Organisationen ihre Berichte vorstellen. Zwischenfälle in Wahllokalen und Last-Minute-Entscheidungen der Wahlbehörde haben das Vertrauen vieler Wähler in das Ergebnis nicht gerade gestärkt. Die Opposition hat bereits angekündigt, das Ergebnis anfechten zu wollen. Gut möglich, dass es zu weiteren Protesten kommt.

Kein fairer Wahlkampf

So oder so ist klar: Einen fairen Wahlkampf hat es nicht gegeben. Während den Befürwortern des Systemwechsels sämtliche Kanäle offenstanden, wurden die Gegner von der Staatsmacht behindert und verfolgt. Gemessen an diesem minimalen Spielraum ist das Ergebnis des Nein-Lagers eine enorme Leistung. Die türkische Zivilgesellschaft lebt. Ihrem Einsatz ist es zu verdanken, dass Erdoğan mit dem Makel der Verletzbarkeit aus der Abstimmung hervorgeht - anstatt mit dem Nimbus des Unbesiegbaren. Wie wäre die Wahl ausgegangen, wenn der Wahlkampf ein kleines bisschen fairer abgelaufen wäre? Diese unbequeme Frage wird die nächsten Schritte des Präsidenten begleiten.

Für jene in Europa, die mit Unverständnis und wachsender Irritation auf Erdoğans Anhängerschaft geblickt haben, bedeutet das Wahlergebnis: Es gibt keinen Grund, das Land aufzugeben. Die Türkei ist mehr als nur Erdoğan-Land, Millionen Menschen sind nicht einverstanden mit dem Abbau des Rechtsstaats. Sie brauchen weiter Unterstützung.

Ja, Erdoğan ist wohl der Gewinner dieses Wahltages - doch es ist ein Sieg, der ihn viel gekostet hat und kosten wird. Als Wahlkämpfer hat er den Menschen das Blaue vom Himmel versprochen: Das Präsidialsystem werde dem Land Stabilität bringen, Wohlstand, Stärke. Die Wirklichkeit sieht anders aus: eine taumelnde Wirtschaft, die allgegenwärtige Gefahr von Anschlägen, Bürgerkrieg im Südosten, einen Krieg an den Landesgrenzen - und zerrüttete Beziehungen zu den wichtigsten strategischen und ökonomischen Partnern, den USA und Europa. Um dieses Referendum für sich zu entscheiden, hat Erdoğan das Land in die Isolation geführt. Das ist eine riesige Hypothek. Als Alleinherrscher wird nach dem Staatsumbau alle Macht bei ihm liegen, doch er wird auch zurückzahlen müssen an sein Volk. Vielleicht denkt Erdoğan für den Moment, er habe nun alle Macht, tatsächlich trägt er alle Verantwortung. Und alle Schuld.

Außenpolitisch wird sich in den kommenden Wochen zeigen, ob die Polarisierung ein Instrument der Mobilisierung war, von dem Erdoğan nun wieder abrücken kann. Als klarer Sieger hätte er entspannt auf Länder und Politiker zugehen können, die er im Wahlkampf noch brüskiert hat; er hätte einige Gräben zuschütten können, die er zu Mobilisierungszwecken aufgerissen hatte. Als Gerade-eben-so-Sieger ist seine Lage nicht so komfortabel. Gut möglich, dass er die Konfrontation mit den Europäern und die aggressive Rhetorik gegenüber dem Ausland nun vor lauter Not auf Dauer stellen will, bis das Volk ermüdet oder die EU alle Geduld verliert. Seine Ankündigung, die Todesstrafe wieder einführen zu wollen, weist leider in diese Richtung.

Für die Europäer gibt es bis auf Weiteres nur eine sinnvolle Haltung: keinen sofortigen Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen, wie sie etwa der stellvertretende CSU-Chef Manfred Weber fordert - sondern abwarten. Erst einmal ist Erdoğan am Zug, wenn er scheitert, dann lieber nicht an der EU, sondern an sich selbst oder an seinem Volk, das sich als bewundernswert couragiert herausgestellt hat.

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