Türkei:Erdoğan ist das Problem, nicht die Gesetze
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Von Deniz Aykanat
An den Nummern 56 und 65 könnte die Visafreiheit für die Türken scheitern. 72 Bedingungen gilt es für die Türkei zu erfüllen, damit ihre Bürger ohne Visum in die Europäische Union einreisen dürfen. Noch vor ein paar Tagen schien dies in greifbarer Nähe. Die EU-Kommission stellte die Visafreiheit schon für Juni in Aussicht - unter Vorbehalt. Aber jetzt verwandeln sich Vorbehalte in haushohe Hindernisse.
Vordergründig dreht sich der Streit um die Gesetze der Türkei. Martin Schulz, Präsident des Europaparlaments, sieht insbesondere beim Datenschutz und bei den Anti-Terror-Gesetzen die Vorgaben der Union nicht erfüllt. Die nötigen Änderungen habe die Türkei "noch nicht einmal angepackt", bemängelte der SPD-Politiker am Mittwoch.
So ganz stimmt das nicht: Die Türkei hat in jüngster Zeit eine ganze Menge Gesetze erlassen, um sich EU-Bestimmungen anzupassen. Das Problem liegt nicht so sehr in der Gesetzgebung. Sondern vielmehr in deren Umsetzung.
"Ich kann nur feststellen, dass die Türkei prinzipiell mit der Umsetzung von EU-Recht sehr schnell agiert, manchmal schneller und effizienter als Staaten, die bereits Mitglied in der EU sind." Das sagt Christian Rumpf, Rechtsanwalt und Experte für türkisches Recht. "Derzeit spielt natürlich auch das allgemeine Verhalten von Staatspräsident Erdoğan eine negative Rolle, der sich offen dazu bekennt, nur das als Recht zu akzeptieren, was er für richtig hält. Und dafür auch noch den Applaus großer Bevölkerungsteile erhält", sagt Rumpf.
Besonders bei den Anti-Terror-Gesetzen stellt sich Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan quer. Denn sie sind Kern seiner derzeitigen Innenpolitik. Zu den Forderungen nach einer Reform sagte er: "Die EU möchte, dass wir unsere Terrorgesetze ändern. Das erwartet sie von einem Land, das sich im Kampf gegen den Terror befindet."
Das wahre Ziel des Anti-Terror-Gesetzes
Die Türkei befindet sich tatsächlich im Kampf gegen den Terror. Die PKK und der sogenannte Islamische Staat werden seit dem Sommer 2015 für viele tödliche Anschläge verantwortlich gemacht. Ziel der türkischen Anti-Terror-Gesetzgebung sind aber vor allem oppositionelle Politiker, kritische Journalisten oder ganz normale Bürger, die wegen angeblicher Terrorpropaganda denunziert und damit mundtot gemacht werden. Für Erdoğan ist das ein Instrument, um seine Alleinherrschaft zu festigen und zu sichern.
Die EU fordert nun in Punkt 65 die Türkei auf, das Rechtssystem im Bezug auf Terrorismus und organisierte Kriminalität zu reformieren sowie die Weise, wie türkische Gerichte diese Gesetze interpretieren. In dem Papier der EU-Kommission werden insbesondere das Recht auf Freiheit und Sicherheit sowie auf ein faires Verfahren, das Recht auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit erwähnt. Bei dem Streit um die Anti-Terror-Gesetze geht es also um fundamentale Menschenrechte.
Als konkrete Handlungsanweisung schreibt die EU-Kommission: "Die Türkei muss ihre Gesetzgebung reformieren, vor allem indem sie die Definition von Terrorismus stärker eingrenzt." Zudem fordert die EU-Kommission, dass die Türkei auch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in ihren Gesetzen festschreibt.
Im türkischen Gesetz sei der Begriff Terrorismus zu umfassend formuliert, heißt es im Fortschrittsbericht der Kommission, der die 72 Punkte einzeln beschreibt.
Dabei definiert das türkische Anti-Terror-Gesetz den Begriff "Terror" eigentlich ähnlich, wie es auch in vielen EU-Ländern gemacht wird. Ziele von Terror sind demnach die Grundsätze der Republik, die Rechts- und Gesellschaftsordnung und die territoriale Einheit. Zum Terror gehören außerdem Gewalt und Schrecken. Die eigentlichen terroristischen Straftaten stehen in der Türkei vor allem im Strafgesetzbuch, vor allem in Artikel 302, und setzen in jedem Falle Gewaltanwendung voraus.
"Die Aufweichung erfolgt dann über die Vorschriften zur 'Beihilfe', die ja ganz einfach nur einen bestimmten geringeren Tatbeitrag betreffen", erläutert Rumpf.
Hier kommt der Begriff der "Terror-Propaganda" ins Spiel, der zahlreiche Journalisten, Politiker und einfache Bürger in der Türkei vor Gericht brachte und täglich bringt. Der Propaganda-Paragraf des Anti-Terror-Gesetzes, der "terroristische Propaganda" unter Strafe stellte, wurde vor vielen Jahren eigentlich abgeschafft. Die Bestimmungen zur Beihilfe, die in Artikel 39 des türkischen StGB geregelt sind, sind aber eine Hintertür, durch die das alte Denken wieder in die moderne Rechtsprechung Einzug halten kann. Besonders dann, wenn das politische Klima so etwas befördert. "Im Moment lassen sich Staatsanwälte dazu hinreißen, zunächst einmal Vereinigungen als 'terroristisch' einzustufen, die nie eine Waffe in die Hand genommen haben, und Menschen, die zum Beispiel spenden oder sich nur positiv öffentlich äußern, als Unterstützer einer solchen Vereinigung zu begreifen", sagt Rumpf.
Ähnliches vollzieht sich derzeit bei den sogenannten "Akademiker-Prozessen". Anfang des Jahres hatten zahlreiche Akademiker, darunter viele in der Türkei bekannte Professoren und Wissenschaftler, einen Aufruf für den Frieden unterzeichnet, in dem gefordert wird, den Krieg in den kurdischen Gebieten zu beenden. Viele von ihnen stehen nun wegen Unterstützung der PKK vor Gericht. Während es außer Frage steht, dass die PKK eine terroristische Vereinigung ist, wird jedoch der juristische Begriff der Beihilfe hier von den Gerichten falsch definiert, um den Akademikern den Prozess zu machen.
"Mit dem Gesetz selbst hat das nicht das Geringste zu tun"
"Während noch vor etwas über einem Jahr selbst die Regierung mit der PKK verhandelte," erklärt Rumpf, "soll jetzt allein das Verlangen nach Aufnahme von Verhandlungen eine Unterstützung der PKK darstellen. Es haben sich tatsächlich Staatsanwälte und Richter gefunden, die dem folgen."
Zweites Hauptziel von Terror-Prozessen sind Journalisten, derzeit wohl bekanntestes Beispiel ist der Chefredakteur der türkischen Zeitung Cumhuriyet, Can Dündar. Er wurde kürzlich zu fast sechs Jahren Haft verurteilt, wegen Geheimnisverrats. Es geht um die Veröffentlichung geheimer Dokumente, die Waffenlieferungen der Türkei an Islamisten in Syrien belegen sollen. Ein weiteres Verfahren gegen Dündar wegen angeblicher Unterstützung einer Terrororganisation läuft noch, ihm wird Unterstützung der Fethullah-Gülen-Bewegung vorgeworfen.
Der Fall ist bezeichnend für die Probleme in der Türkei, erläutert Rumpf. "Wenn ein Can Dündar in den Anwendungsbereich dieses Gesetzes gerät, dann liegt das nicht am Gesetz, sondern an einer Handvoll Juristen in der Justiz, die aus welchen Gründen auch immer hier meinen, zu einer Verurteilung kommen zu müssen." So als ob jemand wegen Beihilfe zum Diebstahl verurteilt werde, weil er in der Kantine einem Kollegen eine Cola ausgegeben habe, der sich später als Ladendieb entpuppte. Solche Prozesse habe der Richter zu verantworten, sagt Rumpf - oder eine politische Führung, die entsprechenden Druck aufzubauen in der Lage sei. "Mit dem Gesetz selbst hat das nicht das Geringste zu tun."
Die Bestimmungen zum Datenschutz sind der zweite Knackpunkt in den Verhandlungen mit der EU, sie sind mit den Anti-Terror-Gesetzen eng verzahnt. In der Türkei ist - wie auch in vielen EU-Staaten - der Datenschutz in der Verfassung als Grundrecht festgeschrieben, und zwar in Artikel 20, der den Schutz der Intimsphäre regelt. Das neue Datenschutzgesetz, das Anfang April in Kraft getreten ist, sollte eigentlich der Datenschutzrichtlinie der EU entsprechen. "Und das tut es im Prinzip auch", meint Rumpf. Die richtige Umsetzung aber sei wieder eine Frage der Poitik.
Im Fortschrittsbericht der Kommission werden die Forderungen zum Datenschutz als "teilweise erfüllt" bezeichnet. Zwar habe es mit dem kürzlich verabschiedeten Gesetz Fortschritte gegeben. Allerdings entspreche das Gesetz nicht den EU-Standards. Auch habe die EU-Kommission dies vor der Verabschiedung im türkischen Parlament mitgeteilt und Hilfestellung bei der Überarbeitung geleistet.
Die EU-Kommission stößt sich vor allem daran, dass das türkische Gesetz ihrer Meinung nach keine unabhängige Behörde aufweist, die die Einhaltung des Datenschutzes kontrolliert. Auf dem Papier sieht zunächst alles korrekt aus. Entscheidungen in wichtigen Fragen des Datenschutzes trifft laut neuem Gesetz ein neunköpfiger Rat, von dem fünf Mitglieder durch das Parlament, zwei durch den Präsidenten und zwei durch den Ministerpräsidenten ernannt werden.
"Diese an sich vernünftige Regelung geht davon aus, dass das Parlament die fünf Kandidaten vernünftig auf die Parteien verteilt und der Präsident der Republik parteilos und unabhängig ist", sagt Rumpf. "Denkt man an die aktuellen politischen Entwicklungen, beunruhigt es natürlich, wenn letztlich Präsident Erdoğan die Mehrheit im Rat beherrscht, über den Ministerpräsidenten und 'seine' Partei."
Ein weiteres Problem: Bei Terrorgefahr wird der Datenschutz eingeschränkt, die türkischen Sicherheitsbehörden bekommen dann umfassende Zugriffsrechte - wie es übrigens auch in den meisten EU-Staaten der Fall ist. Doch "Terrorgefahr" ist in der Türkei nach Ansicht vieler Richter eben ein weites Feld. Da können Ausnahmen leicht - und häufig - begründet werden.
"Dies kann dazu führen, dass Möglichkeiten der Einschränkung des Datenschutzes zum Zwecke der Terrorbekämpfung, wie sie auch in der EU erlaubt sind, politischen Präferenzen unterworfen werden und der Datenschutz gerade dort wieder ausgehebelt wird, wo er eigentlich wirken soll", sagt Rumpf.