Türkei:Erdoğan in der Falle

Die Annullierung der Wahl in Istanbul ist eine Schande für die Demokratie. Und für den Präsidenten ist sie gefährlich.

Von Christiane Schlötzer

Einen "Sieg der Demokratie" nennt die türkische Regierung die Annullierung der Wahl in Istanbul. Wie absurd. Siege werden gewöhnlich mit großem Trara verkündet, der Vorsitzende der obersten Wahlbehörde aber verabschiedete sich grußlos in die Nacht. Die epochale Entscheidung des Richtergremiums zu begründen, überließ er der Regierungspartei. Peinlicher geht es kaum. Die Aufseher haben sich vor der Macht gebeugt - das ist ein Armutszeichen für die türkische Demokratie.

Die landesweite Kommunalwahl war der erste Urnengang seit der Einführung des Präsidialsystems im vergangenen Jahr. Das hat sich Recep Tayyip Erdoğan auf den Leib geschneidert, es gibt ihm fast unbegrenzte Macht. Die Gewaltenteilung wurde eingeschränkt, das Parlament in eine Zuschauerrolle gedrängt, die Justiz in ein Korsett gezwängt und die Medienfreiheit beschnitten. Trotz alledem gewann die Opposition am 31. März die Mehrheit in den größten Städten des Landes, den Zentren des Wohlstands und der industriellen Produktion.

Diese Wahlen haben Erdoğan überraschend Grenzen seiner Macht aufgezeigt, sie waren ein Ausdruck demokratischer Reflexe. Ein Votum gegen Vetternwirtschaft und Korruption und ein Angstschrei angesichts von Arbeitslosigkeit und Inflation. Erdoğan hat sich entschlossen, diesen Weckruf zu überhören. Für seine AKP könnte sich das als fataler Fehler erweisen. Schon das Ringen um eine Wiederholung der Wahl in Istanbul hat Risse in der Regierungspartei sichtbar gemacht. Nicht wenigen Konservativen scheint unwohl zu sein angesichts der Abhängigkeit von den Ultranationalisten, in die Erdoğan sich auf Gedeih und Verderb begeben hat. Ohne den Ultra Devlet Bahçeli und seine MHP hat Erdoğan keine Macht mehr. Diese Falle hat er sich mit dem Präsidialsystem selbst gebaut, das stets absolute Mehrheiten verlangt.

Ekrem İmamoğlu, der Wahlsieger von Istanbul, der nach 20 Tagen sein Bürgermeisteramt wieder abgeben muss, war bis vor Kurzem ein fast unbekannter Mann. Nun hat er seine Chance erkannt. Er gibt den Anti-Erdoğan, verweigert sich der Angstmache. Er lacht, statt wütend zu sein, und verbreitet weiter so viel Zuversicht, als hätte er den neuerlichen Wahlsieg schon in der Tasche.

Ob das Rezept angesichts der politischen Polarisierung aufgeht, ist ungewiss. Denn die AKP wird nun alles daran setzen, die Wahl am 23. Juni nicht noch einmal zu verlieren. Und sie hat damit schon angefangen: Sie wirbt um die Stimmen der Kurden. 2018 gab es in Istanbul bei der Parlamentswahl 1,2 Millionen Wähler der linken prokurdischen HDP. Die hat zuletzt İmamoğlu unterstützt. Es dürfte kein Zufall sein, dass unmittelbar vor der Entscheidung der Wahlbehörde bekannt wurde, dass der Gründer der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK, Abdullah Öcalan, jetzt erstmals seit acht Jahren in seinem Inselgefängnis wieder Anwaltsbesuch haben durfte. Öcalan wird von vielen Kurden bis heute verehrt.

Bald könnte es noch mehr Überraschungen geben. Die Lira schwankt wieder, die Warnungen der Wirtschaft hat Erdoğan in den Wind geschlagen, als er vehement auf Neuwahlen drängte. Die Einzigen, die nun Stabilität schaffen können, sind die zehneinhalb Millionen Wähler in Istanbul. Gehen sie wieder in großer Zahl an die Urnen, können sie wirklich für einen "Sieg der Demokratie" sorgen.

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