Türkei:Finanzpolitik mit dem Koran

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Alles wird teurer, die Inflation in der Türkei liegt bei fast 20 Prozent: Fischmarkt im Karaköy-Viertel von Istanbul. (Foto: Umit Bektas/Reuters)

Präsident Erdoğan setzt konsequent auf die Senkung der Leitzinsen - gegen den Rat von Wirtschaftsexperten. Dabei beruft er sich nun auch auf die Religion: Der Islam verbiete Zinsnahme.

Von Tomas Avenarius, Istanbul

Gegen den Rat der meisten Wirtschaftsexperten hat die türkische Zentralbank erneut die Leitzinsen gesenkt. Mit der Senkung von 16 auf 15 Prozent folgt die Zentralbank den zuvor öffentlich geäußerten Vorgaben von Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Dieser vertritt die von den allermeisten türkischen und internationalen Ökonomen als falsch bezeichnete Haltung, dass hohe Leitzinsen der Inflation Vorschub leisten. Er fordert angesichts einer angeblichen "Zins-Plage" eine betont lockere Geldpolitik und immer wieder neue Leitzinssenkungen.

Die türkische Lira als Landeswährung reagierte auf die jüngste Notenbank-Entscheidung mit einem erneuten Verfall. Die Opposition reagiert entsetzt. CHP-Chef Kemal Kılıçdaroğlu etwa forderte: "Erdoğan, hör endlich auf damit."

Auch die türkischen Notenbanker selbst scheinen an den eigenwilligen ökonomischen Vorstellungen ihres Staatschefs zu verzweifeln. Bei der Bekanntgabe der dritten Zinssenkung innerhalb eines Vierteljahres erklärte der Zentralbank-Vorstand am Mittwoch, man wolle die aktuelle Zinssenkungspolitik angesichts des anhaltenden Währungsverfalls und der ungehemmt steigenden Inflation nun im Dezember stoppen.

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Diese Ankündigung der Notenbanker steht im offenen Widerspruch zu den wiederholten Äußerungen des Präsidenten. Der macht die angeblich zu hohen Zinsen für den Inflationsanstieg und die schleppende Wirtschaftsentwicklung im Land verantwortlich. Jüngst begründete Erdoğan seinen Kampf gegen die Zinsen sogar mit dem Koran: Der Islam lehnt jede Form der Zinsnahme ausdrücklich ab.

Das stimmt zwar: Islamische Wirtschaftstheoretiker stellen deshalb seit Langem eigene Finanzmodelle vor. Bei diesen wird die Kreditvergabe nicht direkt an Zinsen, sondern stattdessen an Anteils- oder Beteiligungsformen geknüpft. Das läuft aber für die Schuldner am Ende auf dasselbe hinaus. Deshalb werden solche religionskonformen Halal-Finanzmodelle in dem meisten Teilen der muslimischen Welt nur sehr wenig genutzt.

Vier Zentralbankchefs seit 2019

Erdoğan ist aber auch ohne das Heilige Buch der Muslime erklärter Zins-Gegner: "Solange ich im Amt bin, werde ich immer gegen Zinsen kämpfen", sagte er jüngst. Man müsse die Bürger von der Zinslast "befreien". Er müsse sich daher von allen abwenden, die eine straffe Geldpolitik betrieben. Sein ständig wiederholter Verweis auf die Unabhängigkeit der Notenbank kann die Gegner seiner Politik umso weniger überzeugen, zumal der Staatschef widerspenstige Zentralbanker nach Belieben entlässt. Der amtierende Zentralbankchef Şahap Kavcıoğlu ist seit März im Amt, er ist der vierte auf diesem Posten seit 2019. Beobachter rechnen damit, dass Finanzminister Lütfi Elvan demnächst gehen muss.

In der Türkei wird aber nicht nur bei der Notenbank am Vorgehen Erdoğans gezweifelt. Ein Ende der lockeren Geldpolitik würde nach Meinung der meisten Fachleute derzeit weit mehr Sinn ergeben als immer neue Zinssenkungen auch in den kommenden Monaten. Nach der Senkung der Leitzinsen auf 15 Prozent liegt die offizielle Teuerungsrate mit knapp 20 Prozent deutlich über den Leitzinsen. Kritiker nennen die offiziellen Inflationszahlen geschönt: Manche schätzen sie auf bis zu 40 Prozent.

Dem Verbraucher wird die verheerende Wirkung der aktuellen Geldpolitik am rasant fallenden Wechselkurs der Lira deutlich. Die Landeswährung erlebte erneut Rekordtiefs gegenüber den Leitwährungen Euro und Dollar. Für einen Dollar wurden nach der Entscheidung der Zentralbank mehr als elf Lira bezahlt, der Euro pendelte knapp über zwölf Lira.

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Türkische Wirtschaftsexperten wie der Kolumnist İbrahim Kahveci von der Zeitung Karar nennen Erdoğans Geldpolitik im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung schwer verständlich. Offenbar gehe es darum, Investoren durch niedrige Zinsen anzulocken und gleichzeitig den Import von Gebrauchsgütern durch die schwache Lira zu verteuern. So sollten die Türken animiert werden, mehr einheimische Produkte zu konsumieren. Durch eine Reduzierung der Importe sollten zugleich Devisen gespart werden. Langfristig erwartet man sich dann große Nachfrage wegen niedrigerer Preise und mehr Investitionen in der Türkei.

Sinn ergibt Erdoğans Politik allenfalls vor dem Hintergrund seines bröckelnden Rückhalts in der Bevölkerung. Der seit 2003 zuerst als Ministerpräsident und seit 2014 als Staatspräsident regierende Politiker und seine konservativ-islamisch ausgerichtete Regierungspartei AKP könnten den meisten Umfragen zufolge derzeit weder die Präsidentschafts- noch die Parlamentswahl gewinnen.

Wahlen stehen spätestens im Sommer 2023 an. Wenn er den Trend noch umlenken möchte, braucht der Amtsinhaber daher rasch wirtschaftliche Erfolge. In den ersten Jahren seiner Regierung galt Erdoğan immerhin als begnadeter Wirtschaftspolitiker, der das Land schnell modernisiert und zugleich den Wohlstand einer neuen Mittelklasse geschaffen hatte.

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