Süddeutsche Zeitung

Europa und die Türkei:Europa muss aus seiner Ohnmacht herausfinden

Hat die EU Mittel und Wege, um Erdoğans Krieg in Syrien zu stoppen? Ja. Sie darf sich nicht mit dem Flüchtlingsdeal erpressen lassen und muss ihre wirtschaftliche Stärke nutzen.

Kommentar von Daniel Brössler, Berlin

Auf die Frage, warum der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan seine Truppe in den Norden Syriens hat vorrücken lassen, lautet die ausschlaggebende Antwort: Weil er es konnte. Das liegt zum einen daran, dass ihm ein intellektuell und charakterlich überforderter US-Präsident freie Hand gelassen hat, zum anderen aber auch daran, dass es keine andere Macht gibt, auf die Erdoğan glaubt, Rücksicht nehmen zu müssen. Die USA hätten die Türkei stoppen können, wollten es aber nicht. Die Europäer hätten die Türkei gerne gestoppt, konnten es aber nicht. Insofern sind die Menschen im syrischen Grenzgebiet zur Türkei nicht nur Opfer Erdoğans, sondern auch der Ohnmacht Europas.

Die ersten europäischen Reaktionen lassen nun zumindest den Wunsch erkennen, Erdoğan nicht weiter gewähren zu lassen. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat eine Stunde lang am Telefon versucht, den türkischen Präsidenten zur Umkehr zu bewegen. Mehrere Länder haben einen zumindest teilweisen Stopp von Rüstungslieferungen verkündet. Die EU-Außenminister haben nun alle Staaten der Union aufgerufen, sich dem anzuschließen. Für europäische Verhältnisse einhellig ist die Empörung darüber, dass ein Land, das Mitglied der Nato ist und offiziell immer noch EU-Kandidat, eine Zone relativer Ruhe in ein Kriegsgebiet verwandelt, Zivilisten ins Unglück bombt und noch mehr Menschen in die Flucht treibt.

Welche Möglichkeiten hat nun Deutschland, um Erdoğan Einhalt zu gebieten? Mit der Entscheidung, keine neuen Lieferungen von Waffen in die Türkei zu genehmigen, die in Syrien eingesetzt werden könnten, hat die Bundesregierung bislang das Mindeste getan. Schließlich wäre es absurd, die Türkei auch noch mit neuen Waffen für ein kriegerisches Vorgehen zu versorgen, das die Bundesregierung als völkerrechtswidrig einstuft. Da sich die Türkei in den vergangenen Jahren vermutlich ausreichend mit Kriegsgerät eingedeckt hat, bleibt das allerdings eine Geste, die keinen nennenswerten Eindruck machen wird. Druckmittel aber gäbe es. Interessant ist, dass Erdoğan um das Telefonat mit Merkel gebeten hatte. Vermutlich wollte er herausfinden, ob ihm ernsthafter Ärger droht.

Die Türkei ist abhängig vom Handel mit der EU

Das wäre dann der Fall, wenn sich die Europäische Union entschließen würde, wirtschaftliche Strafmaßnahmen zu verhängen. US-Präsident Donald Trump hatte Erdoğan die Zerstörung der türkischen Wirtschaft in Aussicht gestellt. Aus Brüssel bedarf es keines solchen Tweets an der Grenze zum Wahnsinn, um Erdoğan an seine ökonomische Verwundbarkeit zu erinnern. Die Abhängigkeit der Türkei vom Handel mit der EU ist offenkundig. Gerade weil er das weiß, droht Erdoğan damit, den Flüchtlingsdeal mit der EU aufzukündigen und Millionen Migranten den Weg nach Europa zu öffnen.

Würden die Europäer dieser Erpressung nachgeben, käme das einer geopolitischen Selbstaufgabe gleich. Nichts von dem, was der türkische Präsident gerade anrichtet, macht Europa sicherer, gestärkt werden dadurch nur der islamistische Terror und das syrische Regime. Die katastrophale Entwicklung ist auch europäischer Schwäche geschuldet, Europa sollte sich nun nicht noch weiter schwächen. Ziel deutscher Politik muss es sein, Erdoğan mit einer möglichst geschlossenen und harten europäischen Reaktion zu überraschen. Das wäre zumindest ein erster Schritt heraus aus der Ohnmacht.

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Quelle:
SZ vom 15.10.2019
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