Süddeutsche Zeitung

Türkei:Bedrohlicher Partner Ankara

Der aggressive Nationalismus Erdoğans ist zur Basis seiner Macht geworden. Vor militärischen Abenteuern schreckt er nicht zurück. Wie kann der Westen ihn wieder an sich binden?

Kommentar von Tomas Avenarius

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg ist nicht zu beneiden: erst Ankara, dann Athen. Mit der Doppelvisite soll er zwischen Türken und Griechen vermitteln, was fast unmöglich erscheint. Denn im Streit um das Erdgas im Mittelmeer widersprechen sich die Positionen der beiden Nato-Mitglieder fundamental. Im Grundsatz hat Ankara im Streit um Rohstoffe und Meeresgrenzen zwar ebenso bedenkenswerte Argumente, wie sie Griechen und Zyprioten haben. Aber die Türkei betreibt Politik immer öfter nach Art eines Kneipenschlägers: sich aufpumpen, immer lauter drohen, notfalls als Erster zuschlagen.

Die Türkei fühlt sich dank einer konsequenten Aufrüstung von Marine und Luftwaffe stark. Zugleich hat sie in den letzten Jahren Geopolitik betrieben. Ankara besitzt inzwischen nicht nur Stützpunkte am Schwarzen Meer und im östlichen Mittelmeer, sondern auch in Katar am Persischen Golf, im Sudan und in Somalia im Roten Meer, demnächst wohl in Libyen. Die Türkei sieht sich als Land, das seine Macht im Mittelmeer, in Asien und an den Küsten Nordafrikas entfalten kann. Notfalls mit militärischer Gewalt, die Drohung steht auch beim Konflikt zwischen Armeniern und Aserbaidschan im Raum.

Für Staatschef Recep Tayyip Erdoğan ist das alles Teil einer strategischen Neuorientierung. Zur Erinnerung: Mit dem Untergang der UdSSR schien der Westen die Türkei nicht mehr als unverzichtbare Bastion an der Nato-Südflanke zu brauchen. Die USA führten 2003 im Irak ungerührt einen Krieg, der Ankaras strategischen Interessen widersprach. Der Sturz Saddam Husseins öffnete die Kurden-Frage im Irak wieder; und sie wurde im Zuge des Arabischen Frühlings auch in Syrien virulent. In beiden Staaten stellte sich Washington an die Seite der Kurden. Und damit automatisch gegen die Türkei.

Die Frage nach der kurdischen Unabhängigkeit bleibt das Reizthema schlechthin in der Türkei. Das Land ist gezeichnet vom Trauma der nationalen Auflehnung im Vielvölkerstaat, der Zerstückelung des Osmanischen Reichs. Bei der heutigen Neuorientierung knüpfen die Türken leider an, wo nach dem Ersten Weltkrieg alles aufgehört und zugleich wieder begonnen hat: beim Nachkriegsvertrag von Lausanne, der 1923 die Grenzen der heutigen Türkei festgelegt hat, auch gegenüber Griechenland.

Dieser Vertrag und auch das nach dem Zweiten Weltkrieg geschlossene Pariser Abkommen werden nun zumindest indirekt infrage gestellt. Diese Verträge sind zugleich Basis der Westbindung, der Nato-Mitgliedschaft. Doch nun zweifelt die Türkei im Mittelmeer, zumindest andeutungsweise, die Grenzen zu den griechischen Inseln wieder an. In Syrien und im Irak halten türkische Truppen Gebiete besetzt, die einmal Teil größerer Grenzveränderungen werden könnten.

In der gesamten islamischen Welt gibt sich die Türkei als Rächer der Entrechteten. Man unterstützt die Anti-Assad-Rebellen in Syrien, die in Ägypten von der Macht vertriebenen Muslimbrüder, die gegen die Israelis stets den Kürzeren ziehenden Palästinenser. Gezielt sucht Ankara den Konflikt mit Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Ägypten, Iran.

Jetzt hat sich die Türkei auch noch auf die Seite der Aserbaidschaner geschlagen, denen die Armenier vor zwei Jahrzehnten die Region Bergkarabach weggenommen haben. Erdoğan gibt nun, wenn die Rede von Aserbaidschan ist, die schmissige Parole "Zwei Staaten, aber eine Nation" aus. Er sichert Unterstützung zu und bezieht zugleich weiter billig Öl und Gas aus Aserbaidschan.

Bei der Neuausrichtung der Türkei geht es nicht nur um Gebiete, die Teil des Osmanischen Reichs waren. Es sind meist Regionen, wo Kurden leben und Rohstoffe lagern. Erdoğans Osmanen-Kitsch und sein islamischer Budenzauber sind Mittel zum Zweck. Die Muskelspiele sollen auch von den innenpolitischen Problemen ablenken. Die Außenpolitik wird deshalb mit größtmöglichem innenpolitischem Lärm vollzogen: der Osmano-Islamo-Nationalismus als Basis für den Machterhalt.

Die Neuorientierung Ankaras weist Kennzeichen von Orientierungslosigkeit auf, etwa bei der halbherzigen Hinwendung zu Russland oder der aus wirtschaftlichen Gründen betriebenen Annäherung an China. Offenbar gibt es auf türkischer Seite ein Gefühl der Isolation. In der EU hat das Land keinen Platz. In der Nato glaubt es sich zurückgewiesen auf der Suche nach modernsten Waffensystemen. In der Zypern-Frage fühlt es sich hingehalten, ebenso beim Ziehen der Meeresgrenzen. Nicht alles davon ist nachvollziehbar. Aber auch nicht alles davon ist falsch.

So ist die Türkei zu einem unberechenbaren Mitglied der Nato geworden, zu einem störrischen Partner der EU und zu einem bedrohlichen Nachbarn für Griechen und Zyprioten. Diese Spannungen aufzulösen, die Türkei als Partner Europas und der westlichen Welt nicht zu verlieren, ist der Job von Vermittlern wie Stoltenberg oder auch Bundeskanzlerin Merkel. Zu beneiden sind sie wirklich nicht.

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Quelle:
SZ vom 06.10.2020
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