Türkei:Erdoğans endliche Geduld

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Der Staatspräsident bringt ein Referendum ins Gespräch, in dem die Bevölkerung über den Beitrittsprozess zur EU abstimmen könnte. Derweil geht die Entlassungswelle weiter.

Angesichts der angespannten Beziehungen zwischen der EU und der Türkei hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan ein Referendum über den EU-Beitrittsprozess ins Spiel gebracht. Erdoğan warf der EU in einem am Sonntag veröffentlichten Gespräch mit der Zeitung Hürriyet erneut vor, den Beitrittsprozess der Türkei zu behindern. "Die Europäische Union versucht, uns dazu zu bringen, dass wir uns aus dem Prozess zurückziehen. Wenn sie uns nicht wollen, sollen sie das klar sagen und beschließen", sagte Erdoğan. Die Geduld Ankaras sei "nicht unendlich". Wenn es nötig sei, könne auch die Türkei ein Referendum abhalten, so wie Großbritannien im Juni über den Ausstieg aus der EU. Das Verhältnis zwischen Brüssel und Ankara ist seit Monaten angespannt. Erdoğans Regierung wird vorgeworfen, ohne Rücksicht auf rechtsstaatliche Grundsätze gegen Regierungskritiker vorzugehen.

EU-Parlamentspräsident Martin Schulz drohte derweil der Türkei mit Konsequenzen. "Wir werden als EU darüber nachdenken müssen, welche wirtschaftlichen Maßnahmen wir ergreifen können", sagte Schulz der Bild am Sonntag. So könne er sich eine Ausweitung der Zollunion nicht vorstellen. In der Türkei ging die seit Monaten dauernde Entlassungswelle weiter und kostete 291 Marine-Angehörige den Job. Außerdem verhängte die Regierung in Ankara über 370 nicht staatliche Organisationen ein Betätigungsverbot. Seit dem Putschversuch im Sommer wurden mehr als 110 000 Richter, Lehrer, Polizisten und Beamte suspendiert oder entlassen und etwa 36 000 festgenommen. Vielen werden Kontakte zur Gülen-Bewegung des im US-Exil lebenden Predigers Fethullah Gülen nachgesagt, den die Regierung von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan als Drahtzieher des Umsturzversuchs bezeichnet. Schulz sagte, er sei dagegen, die Beziehungen zur Türkei abzubrechen, ansonsten gäbe es keine Möglichkeiten mehr, der Opposition und den Gefangenen zu helfen. Über wirtschaftliche Maßnahmen solle die EU aber nachdenken. So solle bis zum Ende des Jahres die Zollunion reformiert werden, in der auch die Türkei Mitglied ist. Nach den Verhaftungen zahlreicher Abgeordneter und Journalisten könne er sich ihre Ausweitung nicht vorstellen. Wenn die Türkei, wie derzeit diskutiert wird, die Todesstrafe wieder einführen wolle, würden auch die EU-Beitrittsgespräche enden.

"Wenn sie uns nicht wollen, sollen sie das klar sagen und beschließen"

EU-Kommissar Günther Oettinger sprach sich aktuell gegen wirtschaftliche Strafmaßnahmen aus. "Wirtschaftssanktionen oder ein Einfrieren der EU-Beitrittsgespräche wären derzeit völlig kontraproduktiv, weil sie unseren Einfluss auf die Türkei in dieser schwierigen Phase schwächen würden", sagte er der Welt am Sonntag. Es gebe andere Instrumente wie die Visafreiheit, um der Türkei deutlich zu machen, dass die EU ihren Kurs nicht akzeptiere. Um die Visafreiheit zu bekommen, müsse die Türkei noch fünf Bedingungen erfüllen: "Ich gehe nicht davon aus, dass die Türkei noch in diesem Jahr die Visafreiheit erhalten wird."

Das visafreie Reisen für Türken in die EU war im Flüchtlingspakt mit Ankara vom März vorgesehen.

© SZ vom 14.11.2016 / AFP, dpa - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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