Türkei:Erdoğan macht die Türkei zum Ein-Mann-Staat

Turkish President Erdogan arrives for a conference in Istanbul

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan strebt ein Ein-Mann-System an.

(Foto: REUTERS)

Mehr als ein Viertel der türkischen Abgeordneten verliert die Immunität. Der Präsident und die AKP bauen das Land radikal um - immer schneller, immer ungenierter.

Kommentar von Luisa Seeling

Man kann derzeit förmlich dabei zusehen, wie der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan und seine Partei, die islamisch-konservative AKP, das politische System des Landes umbauen. Immer schneller gehen sie dabei vor - und immer ungenierter.

Jüngster Coup ist die von der AKP vorangetriebene und am Freitag im Parlament mit Zweidrittelmehrheit beschlossene Verfassungsänderung, die mehr als einem Viertel der Abgeordneten die Immunität entzieht. Die Betroffenen können nun angeklagt werden, im schlimmsten Fall müssen sie ihre Sitze räumen. Es könnte dann Nachwahlen geben, von denen möglicherweise die AKP profitiert. Vor allem die prokurdische HDP ist in ihrer parlamentarischen Existenz bedroht. Fast die gesamte Fraktion wird wohl wegen diverser Terrorvorwürfe vor Gericht landen; Vertreter der AKP haben wiederholt erklärt, dass dies das vorrangige Ziel war.

Betroffen sind aber auch Parlamentarier anderer Fraktionen, weshalb es auf den ersten Blick seltsam anmutet, dass auch Teile der Opposition für die Immunitätsaufhebung gestimmt haben. Doch genau das ist symptomatisch: Nicht nur hält die AKP die absolute Mehrheit im Parlament, die Opposition ist auch viel zu zerstritten, um gemeinsam Front zu machen gegen die Übermacht der Regierungspartei. Wenn es darum geht, den Kurden eins auszuwischen, ist die nationalistische MHP stets zur Stelle. Und in der kemalistischen CHP befürchten wohl viele, dass sie an Zustimmung verlieren, wenn sie nicht mitmachen beim Feldzug gegen die vermeintlichen Terrorhelfer in der HDP.

Geschwächt ist nicht nur das Parlament, sondern auch die Exekutive. Der bisherige Regierungschef Ahmet Davutoğlu ist zurückgetreten, er war dem Präsidenten zu eigenständig geworden. Sein designierter Nachfolger versteht sich als Erfüllungsgehilfe des Staatsoberhaupts, zwischen ihn und Erdoğan passe "kein Blatt", sagt er. Die politischen Leitlinien werden künftig im Präsidentenpalast entworfen, das Kabinett von Binali Yıldırım wird sie umsetzen. Die Justiz als dritte und die Medien als vierte Gewalt sind weitgehend aus- oder gleichgeschaltet, von einigen Inseln des Widerstands abgesehen, deren Tage aber gezählt sein dürften.

Die Anti-Terror-Gesetzgebung ist Erdoğans wichtigste Waffe

Gelingt es Erdoğan, mit seinem Gefolgsmann Yıldırım die offizielle Einführung eines Präsidialsystems zu organisieren, wäre er am Ziel. Die "neue Türkei", von der die AKP-Führung seit Jahren schwärmt, wäre dann ein Ein-Mann-System. Der Weg dorthin könnte über ein Referendum führen, für das Yıldırım im Parlament die nötige Mehrheit beschaffen soll. Dann müssen die Türken entscheiden, ob sie bereit sind, die Gewaltenteilung in ihrem Land endgültig zu begraben.

Schon jetzt stellt der rabiate Staatsumbau in der Türkei die Europäer vor Probleme. Sie werden es nicht mehr mit dem besonnenen Diplomaten Davutoğlu zu tun haben, sondern mit dem erratischen Erdoğan. Die Kritik am Flüchtlingsabkommen, von Anfang an groß, wird lauter. Und eine Einigung in einem der wichtigsten Punkte, der Änderung der türkischen Anti-Terror-Gesetze, ist nicht in Sicht. Die EU sieht diese als Voraussetzung für die von den Türken gewünschte Visafreiheit. Doch die Anti-Terror-Gesetzgebung ist ein zentraler Bestandteil des Herrschaftsystems Erdoğans, die wichtigste Waffe, um Kritiker zum Schweigen zu bringen.

Erdoğan macht es den Europäern schwer, einen Mittelweg zu finden zwischen Kooperation und Kritik. Dass Kanzlerin Angela Merkel am Sonntag Vertreter der türkischen Zivilgesellschaft treffen will, ist richtig. Aber es wird nicht reichen.

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