Türkei:Ein Beben, das alles verändert

Türkei: Vier Tage nach dem Erdbeben suchen Rettungskräfte in den Trümmern eines Gebäudes in Hatay im Süden der Türkei weiter nach Opfern.

Vier Tage nach dem Erdbeben suchen Rettungskräfte in den Trümmern eines Gebäudes in Hatay im Süden der Türkei weiter nach Opfern.

(Foto: YASIN AKGUL/AFP)

Die Zahl der Toten steigt auf mehr als 24 000. In der Türkei ist nichts mehr, wie es war. Das politische Schicksal von Präsident Erdoğan steht auf dem Spiel.

Von Raphael Geiger

Die Türkinnen und Türken mussten sich diese Woche an Bilder gewöhnen, an die man sich nicht gewöhnen kann. In der Stadt Kahramanmaraş beerdigen sie die Toten jetzt in einem Feld, in eilig aufgeschütteten Gräben, wie nach einem Massaker sieht es aus. Da ist das Foto eines Vaters, er lässt die Hand seiner Tochter nicht los, deren Leichnam noch unter den Trümmern liegt. Aus Hatay sendet eine Drohne Aufnahmen, die aussehen, als wäre die Stadt seit Jahren im Krieg.

Wie viele Tote werden es am Ende sein? Auf Twitter kursiert am Freitag ein Vergleich mit dem Beben im chinesischen Sichuan 2008: Dort lag die Zahl der Todesopfer vier Tage danach ähnlich hoch wie jetzt in der Türkei und Syrien, wo es aktuell mehr als 24 000 sind. In Sichuan wurden es am Ende mehr als viermal so viele.

Was also kommt noch zu auf die Menschen in der Katastrophenregion? Die Zahl der Toten stieg zuletzt noch sprunghaft, ungefähr täglich verdoppelte sie sich. Angehörige stehen noch immer vor den Trümmerhaufen ihrer Häuser und wissen, dass es für die Verschütteten kaum noch eine Chance gibt. Und währenddessen kämpfen die Überlebenden selbst damit, dass kein Wasser aus der Leitung kommt, dass sie keine Lebensmittel finden. In Syrien ist die Lage ähnlich ­- nur schlimmer, weil dort kaum Hilfe aus dem Ausland ankommt. Mittlerweile ist die Lage dort so dramatisch, dass die Menschen nicht mehr genügend Nahrungsmittel bekommen.

Der türkische Präsident hat die Katastrophe als "Plan des Schicksals" bezeichnet. Recep Tayyip Erdoğan regiert die Türkei schon sehr lange, so lange, dass man vergleichen kann, wie er auf andere Erdbeben reagiert hat. Im Jahr 2003 zum Beispiel, er war eben erst Premierminister geworden, bebte die Erde in der Provinz Bingöl. Erdoğan versprach Konsequenzen, er wolle sich anschauen, wer sich beim Bau bereichert habe. Und er sagte, man könne das Beben "nicht als Schicksal abtun".

Erdoğan hat der Türkei ein neues Gesicht gegeben

So klang die "neue Türkei", von der Erdoğan bis heute spricht. Die Beben sind, neben ihrer menschlichen Tragik, auch ein Anschlag auf diese neue Türkei. Auf das Selbstbild einer Gesellschaft, die sich in den Erdoğan-Jahren auf dem Weg in die Moderne sah. Die Dinge, das war Erdoğans Versprechen, sollten nun anders laufen, korrekter. Anfangs hätte er vielleicht auch noch gesagt: europäischer.

Erdoğan hat der Türkei ein neues Gesicht gegeben. Ja, tatsächlich: Dieses Land sieht heute ganz anders aus als vor zwei Jahrzehnten. Der Präsident hat die Türkei geprägt, mit unzähligen neuen Wohnhochhäusern, für deren Bau er eine eigene Behörde schuf, mit Autobahnen, Brücken, Kliniken und mit Flughäfen noch im östlichsten Winkel von Anatolien. Die Türkei baut heute Drohnen und Elektroautos und redet bei den großen geopolitischen Fragen mit. Zum 100. Geburtstag der Republik in diesem Jahr sollte sie zu den zehn größten Volkswirtschaften der Welt aufschließen, das war Erdoğans Zielvorgabe.

Davon ist keine Rede mehr. Und es sind gerade die Bauten der Erdoğan-Zeit, die nun bei den Beben beschädigt oder ganz zerstört wurden. Offenbar sahen sie nur modern aus, erdbebensicher waren sie nicht. Dort, im Erdbebengebiet, wo viele Erdoğan immer noch verbunden sind, geht in diesen Tagen etwas zu Ende: der Glaube, man könnte sich auf die Schnelle in die Moderne bauen.

Die Helfer vor Ort klagen darüber, dass der Apparat überfordert sei

Es sind diese Provinzen, wo die Menschen wegen ihrer Armut schon am meisten unter der Hyperinflation leiden. Die Inflation nimmt ihnen viel von dem Wohlstand, der sie mit Erdoğan erreicht hatte. Auch sie, die Inflation, erinnert die Türkinnen und Türken an die 90er-Jahre. Also: an früher. Es ist gerade, als würde die Vergangenheit noch einmal hervorspuken. Die alte Türkei.

Die Helfer vor Ort klagen darüber, dass der Apparat überfordert sei. Die Führungsebenen, für die die Leute oft mehr nach politischer Treue als nach Kompetenz ausgewählt wurden - wer hat sie ausgesucht? Die Oppositionspolitikerin Meral Akşener sagte diese Woche: "Herr Erdoğan hat ein Ein-Mann-Regime gewollt", nun sei er auch "allein verantwortlich".

Recep Tayyip Erdoğan wirkt nicht so, als nähme er die Dinge in die Hand. So wie beim Putschversuch 2016, als Erdoğan noch in der Nacht in Istanbul landete und in die Stadt fuhr, ein unerschrockener Anführer. Danach brachte er das Land erst so richtig unter Kontrolle. Er war der Staat. Heute steht sein Volk unter Schock, mal wieder, wie nach dem Putsch. Wie damals gibt es ein Vorher und ein Nachher, die Türkei ist nach den Beben nicht mehr dieselbe. Was heißt das für Erdoğan?

Ein türkischer Journalist schrieb diese Woche, er sei all dieser Fragen müde: Kann der Präsident noch gewinnen? Finden die Wahlen überhaupt planmäßig statt? Wird Erdoğan freiwillig gehen, falls er abgewählt wird? Er wolle nur eins sagen, schrieb der Mann, in aller Klarheit: Es sei Erdoğan, "der uns in diese Lage gebracht hat".

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